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Mordfall Lübcke: Opferberaterin im Interview - „Kassel hat ein Problem mit Rassismus und rechter Gewalt“

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Von: Kathrin Meyer

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Vor dem Oberlandesgericht Frankfurt: Ahmed I. wurde am Tag, als er vor Gericht aussagte, mit Plakaten unter anderem von der Kasseler Initiative 6. April unterstützt.  
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Vor dem Oberlandesgericht Frankfurt: Ahmed I. wurde am Tag, als er vor Gericht aussagte, mit Plakaten unter anderem von der Kasseler Initiative 6. April unterstützt. Archiv © Matthias Lohr

Der mutmaßliche Mörder von Walther Lübcke soll 2016 auch einen Mann mit einem Messer angegriffen haben. Die Beraterin des Opfers gibt Einblicke in die Situation von Nebenkläger Ahmet I. 

Kassel - Vor fünf Jahren, am 6. Januar 2016, wurde Ahmed I. vor einer Flüchtlingsunterkunft in Lohfelden mit einem Messer angegriffen. Wir haben mit Justyna Staszczak, seiner Beraterin von der Beratungsstelle Response, darüber gesprochen, was der Lübcke-Prozess für den Nebenkläger bedeutet und was Kassel als Tatort besonders brisant macht.

Seit einem halben Jahr läuft der Prozess gegen Stephan Ernst, der neben dem Mord an Walter Lübcke auch für den Angriff auf Ahmed I. verantwortlich sein soll. Wie erlebt Ahmed I. diese Zeit?

Ich möchte vorab klarstellen, dass ich nicht für Ahmed I. sprechen kann. Aber wir beraten ihn seit 2016 und beobachten den Prozess ebenfalls genau. Die Anklage, die von der Bundesanwaltschaft gegen Stephan Ernst erhoben wurde, hat die große Hoffnung geweckt, dass der rassistische Mordversuch auf Ahmed I. doch noch aufgeklärt werden könnte. Man kann sich vorstellen, was dieser Prozess für jemanden bedeutet, der so lange darauf gewartet hat, dass der Fall endlich aufgeklärt wird. Vier Jahre lang hat sich Ahmed I. gefragt, ob der Täter jemals gefunden wird und strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden kann. Auch war es für ihn bedeutend, dass in der Anklage Rassismus als Tatmotiv benannt wird. Zugleich ist der Prozess für ihn natürlich sehr kräftezehrend. Das liegt zum einen an der Konfrontation mit dem mutmaßlichen Täter, aber eben auch daran, erneut die traumatischen Erfahrungen durchleben zu müssen. Und schließlich weiß er immer noch nicht, ob all die Strapazen die erhoffte Aufklärung bringen werden.

Mittlerweile zeichnet sich ab, dass Stephan Ernst wahrscheinlich für den Angriff auf Ahmed I. nicht verurteilt werden wird. Wie geht es Ahmed I. damit?

Es gab im Laufe des Gerichtsprozesses vom Senat Andeutungen, die so zu verstehen sein könnten, dass mit Blick auf den Mordversuch an Ahmed I. mit einem Freispruch des Angeklagten zu rechnen ist. Das kann man aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht konkret sagen. Es stehen wichtige Plädoyers aus – vor allem von der Nebenklage – und noch ist kein Urteil gefallen. Der Generalstaatsanwalt hat in seinem Plädoyer eindeutig klargestellt, dass er die Indizien für Verurteilung für ausreichend hält. Wir sind aber auf alles vorbereitet, eben auch darauf, dass Stephan Ernst im Fall Ahmed I. möglicherweise freigesprochen wird. Sollte das so sein, wäre das natürlich eine große Enttäuschung, aber vor allem die Frage nach der Aufklärung des rassistischen Mordversuchs würde weiter unbeantwortet bleiben. Aber ich kann nur sagen, die Hoffnung ist noch immer enorm groß – auch jetzt noch.

Ihre Kollegin, die Ahmed I. drei Jahre lang betreut hat, arbeitet nicht mehr für die Beratungsstelle Response. Wie schwer war es für ihn, neues Vertrauen zu Ihnen aufzubauen?

Nach so einer Tat wieder Vertrauen aufzubauen, ist die Grundlage eines Beratungsverhältnisses, das stimmt. Die Kollegin hat ihn fast fünf Jahre lang begleitet, aber als feststand, dass dieser Prozess auf uns zukommt, bin ich ohnehin in die Beratung von Ahmed I. eingestiegen. Meine ehemalige Kollegin begleitet Ahmed I., aber auch weiterhin zum Prozess nach Frankfurt.

Was bedeutet es für Betroffene, vor Gericht auszusagen?

Die Möglichkeit, über die Tat vor Gericht zu sprechen, und zu schildern, was der Angriff mit dem Leben eines jungen Menschen gemacht hat, ist immer wichtig – auch für Ahmed I. Im Rahmen eines Gerichtsprozesses kann natürlich nicht alles gesagt werden, was für Betroffene wichtig ist. Das war auch ihm im Vorfeld bewusst. Das liegt daran, dass die Aussage gesteuert wird von den Fragen der Verfahrensbeteiligten. Sie wird in eine bestimmte Richtung gelenkt, um die jeweilige Strategie zu verfolgen.

War das auch bei der Aussage von Ahmed I. so?

Es war einerseits ein sehr bedeutender Moment für ihn. Gerade für Betroffene rassistischer Gewalttaten ist es entscheidend, Raum zu bekommen und dass auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, wie diese Taten wahrzunehmen und einzuschätzen sind. Dann kann ein juristischer Prozess zu einer gesellschaftlichen Aufarbeitung beitragen. Das ist in der Befragung von Ahmed I. aus unserer Sicht nicht gelungen.

Weil er nicht alles sagen konnte, was ihm wichtig gewesen wäre?

Beim Halle-Prozess hat man beispielsweise gesehen, dass es im Ermessen des Gerichts liegt, wie viel Raum Betroffenen gegeben wird. Im Fall Ahmed I. war es eine sehr schwierige Befragung, in der er nicht nur über Schmerz und Leid sprechen, sondern auch Fragen beantworten musste, die nichts mit der Tat zu tun hatten. Das hat natürlich seine und auch unsere Erwartungen nicht erfüllt. Der Generalbundesanwalt hat in seinem Plädoyer auch darauf hingewiesen, dass viele der gestellten Fragen mehr auf Vorurteilen abgezielt haben, als dass sie mit dem Fall etwas zu tun hatten.

Wie erleben Sie als Mitarbeiterin von der Beratungsstelle Response den Prozess?

Die Beratungsstelle Response gibt es seit 2015. Der Prozess gegen Stephan Ernst ist unser erster Prozess von so großem öffentlichen Interesse. Wir begleiten Ahmed I. als Betroffenen. Wir sehen und hören in der Beratung von ihm und von anderen Opfern rassistischer Gewalt, dass es für sie am Wichtigsten ist, dass ihre Perspektive gehört wird und sie ernst genommen werden. Viele haben erlebt, dass das unmittelbar nach der Tat durch Behörden und in der Gesellschaft nicht der Fall war.

Was kennzeichnet für Sie den Prozess?

Wir müssen uns vor Augen führen, dass in diesem Prozess zwei gravierende Straftaten angeklagt sind. Beide wurden in Kassel begangen. Diese Straftaten reihen sich in eine Serie von rechten und rassistischen Straftaten im Raum Kassel ein: der Angriff auf den Wagenplatz an der Fulda (2001), der Angriff auf einen Lehrer (2003), der NSU-Mord an Halit Yozgat (2006), den Mordversuch an Ahmed I. (2016), der Mord an Walter Lübcke (2019) und der Angriff auf einen Minicar-Fahrer (2020). Das zeigt: Das sind keine Einzelfälle. Man fragt sich, wie viele Alarmsignale es noch braucht, damit rassistische Gewalt ernst genommen wird. Kassel nimmt hier zudem ein stückweit eine Sonderposition ein.

Inwiefern?

In Kassel gibt es seit vielen Jahren eine organisierte und militante Neonazi-Szene. Das wurde unterschätzt. Die Folgen davon sehen wir heute. Kassel hat ein Problem mit Rassismus und rechter Gewalt.

Ahmed I. möchte sich derzeit nicht selbst zur Tat und zum Prozess äußern.

Zur Person

Justyna Staszczak (37) arbeitet seit 2017 für die Beratungsstelle Response. Response berät in Hessen kostenfrei Menschen, die von rechtsextremer, rassistischer oder antisemitischer Gewalt betroffen sind. Staszczak hat sich bereits in ihrem Studium der Sozialwissenschaften mit Rassismus befasst und sich dann auf psychosoziale Beratung und Opferberatung spezialisiert. (Kathrin Meyer)

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