1. Startseite
  2. Lokales
  3. Kreis Kassel
  4. Niestetal

Wenn ein Weltstar aufgeregt ist

Erstellt:

Von: Torsten Kohlhaase

Kommentare

Ein lockerer Plausch: MT-Hallensprecher Bernd Kaiser (Mitte) sprach mit Timo Boll (links) und Dimitrij Ovtcharov vor ihrem Schaukampf.
Ein lockerer Plausch: MT-Hallensprecher Bernd Kaiser (Mitte) sprach mit Timo Boll (links) und Dimitrij Ovtcharov vor ihrem Schaukampf. © Schachtschneider, Dieter

Tischtennis-Weltklasse in Niestetal-Sandershausen: Die deutschen Topstars Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov begeisterten 750 Zuschauer während eines Benefizspiels zugunsten ukrainischer Kinder.

Um 13.15 Uhr ist Timo Boll einfach da. Auf dem Parkplatz. Vor der Mehrzweckhalle. Der Tischtennis-Superstar ohne Superstar-Allüren. Dass er ein ganz Großer seines Sports ist, wird dann aber sehr schnell deutlich. Die Autogramm- und Selfiejäger haben seine Ankunft längst mitbekommen und umringen ihn. Aber Timo Boll bleibt Timo Boll. Nett, freundlich, nahbar.

Mit der Sporttasche über der Schulter nimmt er nicht etwa den Hintereingang, sondern geht geradewegs auf die am Einlass wartenden Zuschauer zu. Die ersten Fans klatschen, rufen „Timo, Timo, Timo“. Der 41-Jährige erblickt dann in der Halle Sophia Klees Bruder Johan, deutet auf sein Bein und fragt: „Was ist da denn passiert?“ Der Tischtennisspieler des SC Niestetal antwortet: „Patellasehne gerissen. Aber du hast deine Rippe zuletzt ja auch nicht verschont.“

Während Boll auf seine Umkleide zusteuert, erklärt Klee, dass er mal in Düsseldorf trainiert habe und sich beide kennen. Um 13.30 Uhr ist der mittlere Teil der Tribüne dann mit einem Schlag voll. Die Tischtennis-Gemeinde ist treu – und sie will die Besten der Besten sehen. Das Motto der Veranstaltung ist klar: Unter der Hallenuhr fliegt eine weiße Taube auf blau-gelbem Grund, KSV-Hessen-Maskottchen Totti schwenkt eine Ukraine-Fahne.

Als Bernd Kaiser, Hallensprecher der MT Melsungen, die Moderation beginnt und sich auf sportlich fremdes Geläuf begibt, ist die Halle bei schwülwarmen Außentemperaturen längst wohl geheizt. Thorsten Riewesell von der Organisation „Jumpers – Jugend mit Perspektive“ betont noch einmal die Wichtigkeit der Unterstützung für die Kinder der Ukraine: „Die Traumata sitzen tief, und es braucht viel Zeit, bis diese physischen und psychischen Verletzungen heilen können.“

Als Niestetals Bürgermeister Marcel Brückmann davon spricht, dass er ganz lange nicht mehr so weiche Knie bei einem Heimspiel gehabt hätte, ist noch gar nicht so klar, wann denn das Duell der beiden Stars überhaupt steigen würde. Um kurz vor drei gibt Mitorganisator Thomas Hoppe vom Unternehmer-Netzwerk „Einfach Nordhessen“ dann aber Entwarnung: „Dimitrij Ovtcharov stand auf der A44 im Stau und ist gerade eingetroffen. Er hat uns ganz schön ins Schwitzen gebracht.“

Apropos Schwitzen: Bevor die Zuschauer auf der Tribüne drohen, festzukleben, erheben sie sich um 15.09 Uhr für die Hauptprotagonisten des Nachmittags. Und die sind von der Kulisse richtig angetan. „Vor so vielen Zuschauern habe ich schon lange nicht mehr gespielt. Ich bin sogar ein bisschen aufgeregt“, sagt Ovtcharov, der nachdenkliche Worte findet: „Jeder Tag dieses Krieges ist einer zu viel. Das macht mich extrem traurig.“

Boll freut sich darüber, alte Bekannte wiederzusehen. „Ich habe die Zeit genutzt, noch ein bisschen zu quatschen. Björn Ungruhe, Thomas Theissmann und Klaus Scherb, den ich auch schon in der Halle gesehen habe, kenne ich ja noch aus meinen Duellen mit Jahn Kassel.“

Und dann ist es soweit. Boll schlägt auf. Und holt den ersten Punkt. Nach einem unglaublichen Ballwechsel zum 2:2 haben die Beiden das Publikum sofort auf ihrer Seite. Auch dem 6:2 von Boll geht ein Gewitter von Schmetterschlägen voraus – die Weltklasse ist endgültig angekommen im Niestetal. Boll zeigt eingesprungene Topspins, Ovtcharov die Ballonabwehr – Satz eins geht mit 11:9 an den Südhessen.

Beim 4:2 im zweiten Durchgang schlägt dann die große Stunde von Jonas Graf. Der junge Nachwuchsakteur des SC Niestetal drückt wie später auch eine ukrainische Jugendspielerin Ovtcharov eine Wasserflasche in die Hand und spielt selbst ein paar Bälle gegen Boll. Das Publikum ist begeistert, Ovtcharov, der wahre Entertainer-Qualitäten zeigt und immer wieder mit den Schiedsrichtern flachst, hilft die Pause. Er schnappt sich mit 11:9 den Ausgleich.

Es wird mit allen Mitteln gekämpft. Boll verschiebt beim 5:7 im dritten Satz den Tisch, damit der Ball noch darauf landet. Mitterweile ist es Slapstick pur. Ovtcharov misst das Netz nach, Boll setzt sich die Brille des Schiris auf und hat auch beim 11:9 den Durchblick.

Um 16.36 Uhr bekommt der Erbacher dann zwei Matchbälle. Ovtcharov wehrt beide ab und gewinnt 13:11. Einen entscheidenden fünften Satz gibt es heute nicht mehr, das Feld gehört nun den Selfie- und Autogrammjägern. Während Dimitrij Ovtcharov von einer „Riesen-Veranstaltung“ spricht, ist Timo Boll schon wieder Timo Boll. Nett, freundlich und nahbar.

Auch rund um das Benefizspiel für die Ukraine war einiges los. Was sonst noch passierte, fassen wir in unserer Rubrik „Rund ums Spiel“ zusammen:

Die Spenden

Mitorganisator Thomas Hoppe verkündete am Anfang der Veranstaltung einen Erlös von 36 150 Euro. Da allerdings noch weiter gespendet werden konnte, informierte Bernd Kaiser zwischendurch schon über 38 421 Euro. Am Ende wurden es mehr als 40 000 Euro, die zunächst an den Förderverein „Jumpers – Jugend mit Perspektive“ gehen und dann an die entsprechenden Stellen verteilt werden.

Die Einlagespiele

Zunächst zeigte der Tischtennis-Nachwuchs des SC Niestetal sein Können. Schließlich ließen Jugend-Europameisterin Sophia Klee und Noah Weber vom Drittligisten SVH Kassel die Bälle fliegen. Danach durften beide dann auch im Überkreuzspiel gegen die Weltstars ran. Ovtcharov und Klee schlugen sich die Bälle im Topspin-Duell um die Ohren und kassierten viel Applaus.

Die Helfer

„Das ist schon der Wahnsinn, was hier passiert – ein einmaliges Ereignis. Wir freuen uns sehr, dass Deutschlands Tischtennis-Topstars die Kinder der Ukraine unterstützen“, sagte der Vorsitzende des SC Niestetal, Sascha Unkelbach. Insgesamt seien etwa 50 Helfer am Gelingen der Veranstaltung beteiligt gewesen. „Das ist eine andere Hausnummer als das Pfingstturnier. Es kommt alles sehr geballt auf uns zu“, sagt Peter Schumann vom SCN.

Der prominente Gast

Zugeschaltet per Videoleinwand wurde Thomas Weikert, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes und ehemaliger Präsident des Deutschen Tischtennis-Bundes. Er sagte: „Ich finde die Aktion super. Wir müssen allen Sportlern und allen Geflüchteten aus der Ukraine helfen.“

Auch interessant

Kommentare