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Rassistischen Unrat im Netz verbreitet: Marvin E. aus Spangenberg bleibt weiterhin ein Rätsel

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Von: Stefan Behr

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Endlich mal im Mittelpunkt: Marvin E.
Endlich mal im Mittelpunkt: Marvin E. © dpa

Seit August verhandelt das Landgericht gegen den mutmaßlichen Rechtsterroristen in spe Marvin E., im Mai soll ein Urteil fallen. Der junge Nordhesse bleibt weiterhin ein Rätsel.

Marvin E. macht es einem nicht leicht, ihn zu verstehen. Seit August muss sich der 20-Jährige Marvin E. aus dem nordhessischen Spangenberg vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts wegen der versuchten Gründung einer terroristischen Vereinigung, der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und Verstößen gegen das Waffen- und Sprengstoffrecht verantworten. Er soll versucht haben, einen hessischen Ableger der „Atomwaffen Division“ (AWD), einer rechtsextremen US-Terrororganisation, zu gründen.

Marvin E. sieht nicht aus wie jemand, der ein Atomwaffenarsenal hat, sondern eher wie ein typischer Zwillenträger. Wie ein Lausbub. Das mag an seinem Alter liegen, seiner Rackerfrisur oder an seinem Lächeln, das er schon während des gesamten Prozesses auf der Anklagebank präsentiert – vor allem, wenn die Rede von seinen selbstgebauten Bomben ist, denen die Anklage eine verheerende Wirkung attestiert. Oder wenn der Senat sich anschaut, was E. so alles an rechtsradikalem, rassistischem und antisemitischem Unrat ins Netz gestellt oder gechattet hat. Der Prozess gegen Marvin E. führt in seelische Abgründe.

Prozess am Landgericht Frankfurt: „Konservativ am äußersten rechten Rand“

Marvin E. macht es einem schwer, ihn zu mögen. Einem Gefängnispsychologen gegenüber hat er sich als „konservativ am äußersten rechten Rand“ verortet. Vor Gericht schwärmt er politisch von „einem sozialistischen Ansatz auf nationaler Ebene“. Er erkennt Juden „an der Form ihrer Nasen“, glaubt, „dass sie gut mit Geld umgehen können“, nur ihr „ewiges Rumgemotze und Rumgejammere“ geht ihm „auf den Sack“.

Immerhin leugnet er den Holocaust nicht, er hält ihn bloß für etwas übertrieben: „Man hätte die Juden auch einfach rausschmeißen können.“ Bei der Begutachtung von ihm geposteter rassistischer Witze, die beinahe das Niveau der Chats vom 1. Polizeirevier unterbieten, grinst er, als finde er das immer noch lustig. Er hat „Verständnis für Amokläufer“, denn „Täter sind ja auch Opfer, weil sie von der Gesellschaft so weit getrieben wurden“. Er ist fasziniert von der „Macht, über Leben und Tod anderer zu entscheiden“ und habe damit geliebäugelt, „das auch mal zu machen“. „Es kommt darauf an, was und wen man umbringt“, am besten „Juden, Schwarze, Ausländer und Menschen aus dem linken Spektrum“, und „wer vor die Flinte läuft, hat Pech gehabt“. Präziser gesagt: Marvin E. macht es einem unmöglich, ihn zu mögen.

Marvin E. in Frankfurt: Geliebt gefühlt hat er sich nie

Er macht es einem aber auch schwer, ihn zu hassen. Mitunter weckt er gar Mitleid. Der ehemalige Schreinerlehrling hat handwerkliches Talent, das er nicht nur beim Bombenbau bewies. Er wuchs auf in einem Milieu, das man als bildungsfern bezeichnen darf: „Ich habe nur gelesen, was ich musste.“ Er musste nicht viel. Aber er ist nicht dumm. Der Gefängnispsychologe bescheinigt ihm ein Talent zu „logischem, analytischem Denken“. Geliebt gefühlt hat er sich nie. Seine Mutter empfindet er als „dominant und gefühlskalt“, seinen Vater als „devot“. Soziale Kontakte hatte er kaum. Seine Eltern, seine Geschwister, der örtliche Musikzug, in dem er erst Klarinette, dann Waldhorn spielt: Von allen habe er sich „immer angegriffen gefühlt“, sei nur „als der dumme Hauptschüler wahrgenommen worden“. Er versuchte es in der Kommunalpolitik, kandidierte bei der Kommunalwahl 2021 für die CDU, aber da habe man sich „ungefähr einmal im Monat in so einem Raum getroffen und dann da rumgesessen“. Der Partei trat er nicht bei. Immerhin durfte er für einen CDU-Ortsbeirat Rasen mähen.

Anerkennung fand E. im Internet, vor allem bei politisch fragwürdigen Gestalten, bei denen er mit seinen blöden Sprüchen punkten konnte. Bei der AWD fand er nach eigenen Angaben „ein stärkeres familiäres Gemeinschaftsgefühl als bei der CDU“. Oder in seiner Familie. Am Tag der Hausdurchsuchung, an dem die Polizei Marvin E. mitnahm, kam seine Mutter nach Hause, sah die Bescherung, regte sich kurz auf, dass sie jetzt wohl nicht ihre Lieblingsfernsehserie gucken könne – und fuhr wortlos davon.

Angeklagter E. in Frankfurt: „Wenn von Ihren Taten die Rede ist, grinsen Sie meistens“

Ein bisschen Zuwendung fand E. sonst nur bei seinen wenigen Freunden im echten Leben, denen er in Wald und Feld seine selbstgebauten Böller vorführte. Er nennt sie seine „Babys“, als er sie baute, sagt er, „da fing ich langsam an, größer zu werden“.

Die Leiterin des Wiesbadener Jugendgefängnisses, in dem E. zuerst einsaß, erlebte ihn als „sehr höflich, sehr freundlich, sehr angepasst“. E. schien zufrieden: Seine Mitgefangenen nennen ihn respektvoll „Der Bombenleger“, er gibt ihnen seinen Haftbefehl zu lesen und prahlt, notfalls auch „aus einem Kühlschrank und einem Rasierer eine Bombe bauen zu können“. Als er aber anfing, im Knast seine krude Ideologie zu verbreiten, wurde er vom Jugend- ins Frankfurter Erwachsenengefängnis verlegt. Das focht E. aber nicht an. Die Medien interessieren sich weiter für ihn, die Polizei, die Justiz. Er ist plötzlich jemand.

Den Vorsitzenden Richter Christoph Koller beschleicht an einem Verhandlungstag Anfang dieser Woche ein Verdacht. „Wenn von Ihren Taten die Rede ist, grinsen Sie meistens“, sagt Koller – und fragt sich, ob der Angeklagte die Taten überhaupt reflektiert habe. Das hat er wohl, wenn auch auf ganz eigene Art: „Man ist ja von der Anklage her etwas Wichtiges, etwas Größeres“, sagt E. und grinst sein Lausbubengrinsen. Vielleicht ist es ja das Lächeln des endlich Wahr- und Ernstgenommenen. Seit er im Gefängnis sitzt, hat ihn niemand aus seiner Familie besucht. Sein Vater hat ihm immerhin einen Brief geschrieben.

Anfangs voller Zuschauerraum im Landgericht Frankfurt ist mittlerweile leer

E. hat ihm nicht geantwortet. Er braucht die Familie nicht mehr. Er hat jetzt andere, die sich um ihn kümmern, auch wenn das Publikumsinteresse an dem Fall stark abgeflaut ist. Der anfangs volle Zuschauerraum des Hochsicherheitssaals ist mittlerweile gähnend leer, die Vernehmungen von Polizisten und Sprengstoffexperten sind nicht sonderlich aufregend, aber zumindest die Prozessbeteiligten interessieren sich noch sehr für Marvin E. Der Senat plant, am 8. Mai ein Urteil zu verkünden.

Ob bis dahin klar wird, wie Marvin E. eigentlich tickt, ist mehr als fraglich. „Sich selbst zu verstehen, ist manchmal ein Problem“, hat der junge Mann im Verlauf des Prozesses erkannt. Wie soll es da anderen gelingen?(Stefan Behr)

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