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„Meine Figuren finden mich“: Interview mit dem Autor Ulrich Woelk

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Von: Christine Zacharias

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Das Bild zeigt den Autor Ulrich Woelk verwendet in einem Berliner Café.
Der Autor Ulrich Woelk verwendet in seinen Romanen, Theaterstücken und Erzählungen gerne zeitgeschichtliche Hintergründe. © Bettina Keller

Seit 20 Jahren gibt es die Aktion „Bad Hersfeld liest ein Buch“. In diesem Jahr ist es „Der Sommer meiner Mutter“ von Ulrich Woelk. Mit ihm sprach Christine Zacharias.

Herr Woelk, die Stadt Bad Hersfeld hat Ihren Roman „Der Sommer meiner Mutter“ für ihre Leseaktion „Bad Hersfeld liest ein Buch“ ausgewählt. Wie finden Sie das?

Das ist sehr erfreulich. Man freut sich als Autor immer, wenn man Wahrnehmung bekommt. Ich mag diese Aktion, dass eine Stadt sich mit einem Buch beschäftigt ohnehin sehr gerne. So wird Literatur zum Gesprächsthema.

Wie wichtig ist Ihnen der persönliche Kontakt zu Ihren Lesern?

Der ist mir sehr wichtig. Wenn ich einen neuen Roman geschrieben habe, gehe ich gerne auf Lesetour. Es gefällt mir zu erfahren, wie die Leute auf mein Buch reagieren, welche Fragen sie stellen.

Sie haben ja inzwischen einen neuen Roman, „Für ein Leben“, veröffentlicht. Ist es da schwierig, sich noch einmal in das Buch von vor zwei Jahren zurückzuversetzen?

Nein, das ist kein Problem. Ich habe auch meine Bücher aus den 90er Jahren noch im Kopf. Die würde ich aber vor einer Lesung schon noch mal zur Hand nehmen und darin lesen. „Der Sommer meiner Mutter“ ist mir aber noch sehr präsent.

Sie haben mit Naturwissenschaften angefangen, Physik studiert und als Astrophysiker gearbeitet. Wie wird ein Astrophysiker zum Schriftsteller?

Ich habe immer beides gemacht, Naturwissenschaften und Literatur. Als Jugendlicher war ich mehr naturwissenschaftlich interessiert, das literarische Interesse kam etwas später dazu. Deshalb habe ich auch neben den Naturwissenschaften Philosophie studiert. Das Schreiben habe ich parallel dazu im Kopf bewegt. Die beste Schule für das Schreiben ist ohnehin das Leben. Ende der 1980er Jahre habe ich meinen ersten Roman begonnen, der auch gleich vom Fischer-Verlag angenommen wurde. Danach habe ich einige Jahre beides gemacht, schreiben und als Astrophysiker an der Universität gearbeitet. Der Übergang zum Schriftsteller war für mich fließend. .

In mehreren Ihrer Bücher spielen die Naturwissenschaften und vor allem die Physik eine Rolle. Wollen Sie Ihren Lesern damit die Wissenschaft nahebringen oder schöpfen Sie einfach nur aus Ihren Erfahrungen?

Da gibt es zwei Richtungen. Tatsächlich spielen die Naturwissenschaften nur in einigen Büchern eine Rolle, in „Freigang“, meinem ersten Roman oder in „Die Einsamkeit des Astronomen“. In den Romanen „Einstein on the lake“, „Schrödingers Schlafzimmer“ und „Joana Mandelbrot und ich“, die ich als Trilogie geschrieben habe, ist das naturwissenschaftliche Thema mehr metaphorisch. Vorrangig geht es um Beziehungen, um Liebe und die Frage, wie Paare in der heutigen Zeit miteinander umgehen. In den meisten Büchern gibt es auch einen zeitgeschichtlichen Hintergrund, so wie auch in „Der Sommer meiner Mutter“, wo die Mondlandung 1969 eine Rolle spielt und die Frage der Selbstverwirklichung von Frauen.

Wie finden Sie die Themen für Ihre Bücher?

Die Einfälle kommen einfach und setzen sich in meinem Kopf fest. 2017 waren wir zum Beispiel zu einem längeren Urlaub in den USA und erlebten dort eine totale Sonnenfinsternis. Das war sehr beeindruckend. In diesem Zusammenhang ist der Astrophysiker in mir auf das 50-jährige Jubiläum der Mondlandung im Jahr 2019 aufmerksam geworden. Ich habe die Mondlandung als Junge miterlebt und dachte darüber nach, sie literarisch zu verarbeiten, und dann kam auch gleich die Idee für eine Geschichte. Mir war bewusst, dass die Zeit ziemlich knapp war, deshalb habe ich schon im Urlaub ein erstes Kapitel geschrieben, um zu sehen, ob es funktioniert. Die Arbeit ging gut voran und so habe ich weiter gemacht.

Wie viel Recherchearbeit ist im Vorfeld nötig, wenn Sie einen Roman mit zeitgeschichtlichem Hintergrund schreiben?

Das ist unterschiedlich. Bei meinem jüngsten Roman „Für ein Leben“, der mehr als 600 Seiten umfasst, war sehr viel Recherche notwendig. Da geht es um vielfältige Themen und viele verschiedene Personen. Für „Der Sommer meiner Mutter“ begann die Recherche mit alten Familienfotos und den 8mm-Filmen meines Vaters, um die Atmosphäre von damals nachzuvollziehen. Die damalige ARD-Livesendung von der Mondlandung gibt es auf Youtube, und natürlich sind viele eigene Erfahrungen in den Roman eingeflossen. Meine Eltern waren eher bürgerlich-katholische Rheinländer, aber in Köln war damals viel los und das habe ich auch als Kind schon mitbekommen.

Sind Sie ein disziplinierter Schreiber, also jemand, der jeden Tag konsequent am Schreibtisch sitzt und sich Satz für Satz erarbeitet oder folgen sie eher Ihrer Intuition, Ihrem Bauchgefühl und dem, was Ihre Figuren fordern?

Ich setze mich schon sehr regelmäßig hin und versuche, jeden Tag mein Pensum zu schreiben. Ein bis zwei Seiten sollten es sein. Aber das klappt natürlich nicht immer. Meine Zeit zum Schreiben ist eher morgens. Ich lebe auch sehr in der jeweiligen Geschichte. Wenn ich schreibe, sind die Romanfiguren immer da und ich muss ganz bewusst abschalten, wenn ich etwas anderes machen will.

In „Der Sommer meiner Mutter“ schreiben Sie aus der Perspektive eines Elfjährigen. Wie versetzt man sich als Erwachsener in ein Kind?

Eigentlich schreibt die Geschichte ja der Erwachsene, der mal ein Elfjähriger war, im Rückblick. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, die Welt noch einmal mit den Augen eines Jungen zu sehen, der nur vageste Mutmaßungen hat über die Beziehung seiner Eltern zueinander, über Mädchen, Liebe und Sexualität. Den Freitod der Mutter habe ich aber ganz bewusst nur sehr kurz geschildert. Ich erzähle über Dinge, die Tobi, mein Protagonist, damals erlebt hat, nicht über die Folgen und Auswirkungen auf sein Leben. Das wäre dann Thema eines anderen Romans, von dem ich aber nicht weiß, ob ich ihn schreiben werde.

Wie viel Ulrich Woelk steckt in Ihren Romanen und Theaterstücken?

Schon sehr viel. Die Figuren meiner Geschichten finden mich, so kommt es mir immer vor. Sie sind dann nicht ich, aber es steckt immer etwas von mir in ihnen.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Nach dem Roman ist vor dem Roman. Ich habe kürzlich erst ein Buch mit mehr als 600 Seiten abgeschlossen. Da legt man nicht gleich wieder los. Aber es gibt schon verschiedene Stoffe und Ideen, auf die ich Lust habe.

Werden Sie in Bad Hersfeld auch Zeit haben, andere Veranstaltungen zu besuchen?

Ich komme ja zweimal. Am 13. November werde ich bei einem Symposium einen Vortrag halten und am 25. November bin ich bei der Abschlussveranstaltung dabei. Weitere Besuche sind nicht geplant, aber ich habe das Programm bekommen und bin sehr beeindruckt, was in Bad Hersfeld auf die Beine gestellt wird. (Interview: Christine Zacharias)

Zur Person

Ulrich Woelk (61) wuchs in Köln-Porz auf. Von 1980 bis 1987 studierte er Physik und Philosophie an der Universität Tübingen. In seiner Diplomarbeit befasste er sich mit einem Thema aus der Chaostheorie. Anschließend arbeitete er als Astrophysiker an der TU Berlin und an der Universität Göttingen. 1990 veröffentlichte er seinen Debütroman „Freigang“, der mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. 1991 promovierte Woelk, zwei Jahre später erschien sein nächster Roman „Rückspiel“. Seit 1995 lebt Ulrich Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Er ist verheiratet und hat eine Tochter. Sein Werk umfasst Romane, Theaterstücke, Hörspiele und Essays. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Berlin, Köln und Zürich aufgeführt, seine Romane in zahlreiche Sprachen übersetzt. (zac)

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