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„Glaube braucht Gemeinschaft“: Dekan Hofmann über sinkende Kirchen-Mitgliederzahlen

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Dekan Dr. Frank Hofmann.
Dekan Dr. Frank Hofmann. © Wilfried Apel

Die Evangelische Kirche verliert auch im Landkreis Hersfeld-Rotenburg Mitglieder. Über diese Entwicklung spricht Dekan Dr. Frank Hofmann im Interview.

Hersfeld-Rotenburg – Am Rande der Frühjahrssynode des Kirchenkreises sprachen wir mit Dekan Dr. Frank Hofmann über die Gründe für den Rückgang und darüber, wie mit dieser Entwicklung umgegangen werden sollte.

Herr Dekan Dr. Hofmann, die Mitgliedskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) haben 2022 knapp drei Prozent ihrer Mitglieder verloren, von rund 19,15 Mio. Mitgliedern rund 380000. In der Landeskirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW), zu der unser Kirchenkreis gehört, war ein Minus von rund 2,5 Prozent zu verzeichnen. Wie sieht es im Kirchenkreis Hersfeld-Rotenburg aus?

Zum Jahreswechsel hatte unser Kirchenkreis 63 815 Gemeindeglieder, das sind 1 608 Personen oder 2,46 Prozent weniger als ein Jahr zuvor.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach insbesondere, dass Gläubige vor Ort nichts mehr mit der evangelischen Kirche zu tun haben wollen?

Die Frage impliziert eine Unterstellung: dass Gläubige nichts mehr mit der Kirche zu tun haben wollen. Das Thema Kirchenaustritt ist soziologisch gut untersucht. Es gibt durchaus einige Menschen, die zwischen ihrem individuellen Glauben und der Kirche keinen Zusammenhang sehen. Der weitaus häufigere Fall aber ist der einer langen Entfremdung, die auch dazu führt, sich selbst nicht als „gläubig“ einzuschätzen, wobei dieser Begriff im evangelischen Sinne auch noch einmal zu diskutieren wäre, weil er oft als Fürwahrhalten irgendwelcher Sätze missverstanden wird. Und nicht zuletzt: In der „Gesellschaft der Singularitäten“, die der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt, gibt es so etwas wie gesellschaftliche Konventionen, die unser Land auch nach dem Zweiten Weltkrieg stark geprägt haben, zunehmend weniger. Das Thema Mitgliederverlust ist darum kein spezifisch kirchliches Thema, sondern zeigt sich zum Beispiel ganz ähnlich bei Parteien und Gewerkschaften.

Gehen Pfarrerinnen, Pfarrer und Kirchenvorstandsmitglieder noch einmal auf Ausgetretene zu, wenn sie erfahren, dass eines ihrer „Schäfchen“ oder eine ganze Familie ausgetreten ist? Was unternehmen sie schon vorher, um Austritten entgegenzuwirken?

Die Praxis in den einzelnen Gemeinden ist nach meiner Kenntnis unterschiedlich – und die Erfahrungen, die Pfarrerinnen und Pfarrer in solchen Gesprächen machen, sind ebenfalls sehr unterschiedlich. Zum Thema „Mitgliederbindung“ gehören Aspekte wie zielgruppenspezifische Angebote oder auch die transparente Kommunikation über die Verwendung kirchlicher Mittel. Das findet natürlich statt, alle unsere Haushalte sind zum Beispiel öffentlich, ändert aber nichts an den großen gesellschaftlichen Trends.

Wo zeigt sich, dass die evangelische Kirche trotz nach wie vor hoher Austrittszahlen in der Gesellschaft anhaltend präsent ist, wie es Bischöfin Prof. Dr. Beate Hofmann für sich und die EKKW in Anspruch nimmt?

Nun ist es nicht meine Aufgabe, die Bischöfin zu interpretieren. Aber für unsere Region will ich auf drei Dinge hinweisen: Zum einen sind wir flächendeckend mit unterschiedlichen Angeboten der Lebensbegleitung – Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung – präsent, ebenso wie mit allgemeiner Seelsorge und „normalen“ sowie „besonderen“ Gottesdiensten. Zum anderen sind wir mit der Arbeit des regionalen Diakonischen Werks, einer ganzen Reihe von Kindertagesstätten sowie Mitarbeitenden in der Kinder- und Jugendarbeit in der Region präsent. Auch dort, wo wir als Träger der freien Wohlfahrtspflege im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips aktiv sind, setzen wir dafür auch eigenes, durch Kirchensteuern eingenommenes Geld ein. Und drittens sind wir – wie HNA und HZ in einer Serie dargestellt haben – mit Kirchengebäuden in den Städten und Dörfern präsent, also mit häufig ortsbildprägenden öffentlichen Räumen für öffentliche Anlässe.

Kann es sein, dass die Kirche neben nicht besonders gut besuchten „normalen“ Gottesdiensten viel zu wenige Angebote für junge Erwachsene und Familien, Frauen und Männer macht, sodass sich die entsprechenden Kirchensteuerzahler zu Recht fragen: „Warum zahle ich Kirchensteuer und warum gehöre ich eigentlich noch der Kirche an?“

Es geht hier um die schlichte Frage, wofür wir unsere begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen einsetzen. Wenn eine Gemeinde einen Schwerpunkt auf die Arbeit mit jungen Erwachsenen und Familien legt, dann wird es in dieser Gemeinde möglicherweise weniger klassische Seniorenarbeit und vielleicht auch keine Geburtstagsbesuche mehr geben können. Wenn an einem Ort verstärkt zielgruppenorientierte Gottesdienste – zum Beispiel für Kinder und Familien – angeboten werden, dann fallen „traditionelle“ Gottesdienst weg. Eine solche Schwerpunktsetzung kann die richtige Entscheidung sein – aber dann muss das klar kommuniziert werden und dann wird es Enttäuschungen bei denen geben, die sich nicht angesprochen fühlen. Aus guten Gründen stärken wir seit einigen Jahren die Kooperation in der Region: Gemeinden sollen und dürfen unterschiedliche Profile und Schwerpunkte entwickeln und untereinander absprechen. Bei Angeboten der Kirchenmusik, die mit hauptberuflich Tätigen ausgestattet sind, ist das zum Beispiel noch nie anders gewesen. Das setzt aber auch voraus, dass ich für das Angebot, das mich interessiert, auch mal ein paar Kilometer fahre – so, wie ich das für sehr viele andere Dinge auch tue!

Warum sollte ich nach wie vor der Kirche angehören?

Eine theologische Antwort lautet: Weil der Glaube auf Gemeinschaft angewiesen ist. Eine Gemeinschaft, die den Glauben an Gott auf vielfältige Weise lebt und weitergibt, greift weiter als meine individuelle Einsicht. Weil der Glaube vielfältig ist, öffnet Kirche Räume für verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Interessen. Dafür braucht es einen bestimmten organisatorischen Rahmen – zum Beispiel qualifiziertes Personal und Gebäude – die auch finanziert werden müssen. Noch einmal etwas anders formuliert: Wem daran liegt, dass „die Kirche im Dorf bleibt“, erreicht das am ehesten mit Engagement und Mitgliedschaft.

Interview: Wilfried Apel

Zur Person

Dr. Frank Hofmann (58) hat in Oberursel und Tübingen evangelische Theologie studiert. Seit 2020 ist Hofmann Dekan des Kirchenkreises Hersfeld-Rotenburg. Vor der Fusion war er – ab 2014 – Dekan des Kirchenkreises Hersfeld. Hofmann ist außerdem als Gemeinde- und Organisationsberater sowie Coach am „Institut für Personalberatung, Organisationsentwicklung und Supervision“ (IPOS) der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau tätig. Dr. Frank Hofmann lebt mit seiner Ehefrau im Bad Hersfelder Stadtteil Johannesberg und hat zwei erwachsene Kinder.  

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