Familienausflug im Führerstand: Eisenbahn-Fan Jessica Rehn (13) hat zwei Jahre auf Zugfahrt gewartet

Bei Harry Potter findet sie nicht nur die Zaubererschule Hogwarts, sondern auch die Dampflok auf Gleis Neundreiviertel im Londoner Bahnhof King’s Cross spannend: Jessica Rehn hat ein ungewöhnliches Hobby für eine Dreizehnjährige.
Bebra – Die junge Bebranerin mag Züge. Das Massive der Ungetüme hat es ihr angetan, die zig Tonnen Güter und zahlreiche Reisenden scheinbar mühelos auf den Schienen quer durch Deutschland transportieren.
Es gibt sie noch, die Eisenbahnerfamilien in Bebra: Vater Patrick Rehn ist seit 15 Jahren Lokführer und selbst eingefleischter Fan. Seit Jessica vier Jahre alt ist, ziehen die beiden mit dem Fotoapparat los, um Schnappschüsse von Zügen auf der Durchfahrt zu erjagen. „Wir haben auch früh mit einer Duplo-Eisenban angefangen“, sagt Patrick Rehn mit einem Lachen. Gemeinsam in der Schaltzentrale einer fahrenden Lok saßen Vater und Tochter aber noch nie – bis jetzt.

„Für einen Eisenbahner ist das schwierig“, erklärt der Lokführer aus Bebra. Sein Arbeitsplatz ist ein von jeder Menge Hochspannung angetriebener Koloss – durch die Schaltkreise der E-Lok rasen bis zu 15 000 Volt – in einem Gewirr von Schienen. Er kann seine Tochter also nicht einfach mal morgens mit ins Büro bringen.
Stattdessen braucht die Familien-Fahrt jede Menge Vorlauf: Im gesamten Bahn-Konzern gibt es genau einen Mitarbeiter mit Sitz in Mainz, der die Mitfahrt von Minderjährigen genehmigen kann. Zum jüngsten Girlsday hat er grünes Licht gegeben. Vater und Tochter wollten bereits vor zwei Jahren auf Tour gehen – der Berufsorientierungstag ist ab Jahrgangsstufe fünf möglich. „Aber dann kam Corona“, sagt Jessica, die mittlerweile die siebte Klasse der Brüder-Grimm-Gesamtschule in Bebra besucht.

Für die Wartezeit wird die Dreizehnjährige gebührend entschädigt. Patrick Rehn hat sich ins Zeug gelegt und eine besondere Lok organisiert: „Günni Güterzug“ ist das bunt beklebte, 19 Meter lange und 84 Tonnen schwere rollend Maskottchen von DB Cargo („Egal wie gut du fährst – Günni fährt Güter“). Die Lok soll einen mit 1365 Tonnen Salz beladenen Kali-Zug nach Norddeutschland bringen. Gestartet wird am Bahnhof Bebra. Von dort geht es zunächst ins thüringische Gerstungen, wo Günni die Kali-Waggons auflesen soll, und dann über den Rangierbahnhof in Kassel nach Hamburg, wo die Fracht auf Hochseeschiffe verladen wird.
Ganz ohne Aufpasser geht das nicht – für die Tochter sowie für den Vater, der immerhin einen Zug steuern muss und deshalb Jörg Bämpfer, einen der Gruppenleiter der Lokführer in Bebra, an seiner Seite hat. Zudem müssen alle orangefarbene Warnwesten tragen, selbst der Rucksack bekommt einen entsprechenden Überzug. „Das Wichtigste ist, dass man überhaupt gesehen wird“, erklärt der Bebraner Bämpfer. Der kleine Tross erinnert daher auf dem Weg zu Günni, der auf Gleis elf in Bebra wartet, etwas an die niederländische Nationalmannschaft.

Nach 20 Minuten ist die Lok betriebsfertig, wechselt auf Gleis zehn und nimmt Fahrt auf Richtung Gerstungen – und wie. Nach einer halben Minute ist Weiterode schon vorbeigesaust, bis Ronshausen braucht Günni drei Minuten. „Mit 140 durch die Dörfer geht nur mit der Lok“, kommentiert Patrick Rehn. Bis Gerstungen kreuzt der Zug dreimal die hessisch-thüringische Grenze. Jessica hält sich derweil am Fahrersitz fest und schaut ihrem Vater mit leuchtenden Augen zum ersten mal bei der Arbeit über die Schulter.
Auch für den Lokführer ist es eine ungewöhnliche Situation: So voll dürfte sein Führerstand noch nicht gewesen sein. „ Wir sind zu gut 80 Prozent der Zeit allein – einige reizt das, andere schreckt es ab“, sagt Ausbilder Bämpfer. Für Jessica ist das kein Grund, sich in der Schaltzentrale der Lok nicht wohl zu fühlen: „Das stört mich gar nicht. Ich finde es toll hier“, sagt sie. Zumal ein Lokführer nie wirklich allein ist: Spätestens alle 25 Sekunden muss Rehn per Fußpedal oder Knopfdruck die sogenannte Sicherheitsfahrschaltung – von Eisenbahnern kurz Sifa genannt – betätigen. Das System macht sich erst blinkend und dann lautstark über Lautsprecher bemerkbar, wenn sich das Zeitfenster schließt. Reagiert der Lokführer nicht, wird der Zug per Zwangsbremsung zum Stehen gebracht.

Nach der Ankunft in Gerstungen ist eine Tugend gefragt, die ebenfalls zum Eisenbahner-Alltag gehören dürfte: Geduld. Der Zug mit den Kali-Waggons aus Heringen hat Verspätung. Mit einer Gelassenheit, die auch einer erfahrenen Lokführerin gut stehen würde, nimmt Jessica die Zwangspause hin – und schießt Fotos von Günni. Bis Kassel darf die 13-Jährige im Führerstand bleiben. Dann setzt sie sich, ganz Eisenbahnerkind, in einen Regionalzug zurück in die Heimat. (Clemens Herwig)