Daher schlagen sie nun Alarm. Der Kreis Hersfeld-Rotenburg verliert nahezu widerstandslos und unwiderruflich seine Reize, wenn über 30 Windfelder die Landschaft überlasten, warnen die Naturschützer im Kreis Hersfeld-Rotenburg.
Sie haben lange still gehalten, obwohl die Besorgnis groß ist. Die Einigung zwischen der schwarz-grünen Landesregierung und den Spitzenverbänden der Naturschutzverbände zum Ausbau der Windkraft in Hessen ist bereits im Herbst 2020 erzielt worden. Doch als vor Kurzem bekannt wurde, dass zehn der ursprünglich abgelehnten Windräder des Windparks Gaishecke im Wald zwischen Heringen, Friedewald und Wildeck beim Naturschutzgebiet Rhäden doch genehmigt werden, war ihnen klar, wohin die Reise geht.
„Wer den Windpark Gaishecke genehmigt, dem ist nichts mehr heilig“, betont Bernd Sauer, der stellvertretende Vorsitzende des Nabu Wildeck. „Der Rhäden ist ein Naturschutzgebiet von europäischer Bedeutung – das Naturschutzgebiet schlechthin.“ Selbst ein unabhängiges Gutachten, das massive Probleme für den Natur- und Artenschutz belege, sei einfach hinweggefegt worden. Ob es Sinn hat, noch einmal Widerspruch gegen diese Genehmigung einzulegen, wollen die Naturschützer noch klären.
Sie gehen davon aus, dass jetzt alle Vorrangflächen im Kreis bebaut werden – eventuell mit weniger Anlagen als geplant und mit Abschaltzeiten zum Schutz der bedrohten Vogelarten. Für die Abschaltzeiten sollen die Betreiber eine Entschädigung erhalten.
„Wir haben mehrere Problemwindfelder mit bedeutendem Vogelvorkommen. Und wir wollen, dass diese Felder nicht bebaut werden“, betont Dieter Gothe, der stellvertretende Nabu-Vorsitzende im Kreis. Und dafür wollen die Naturschützer weiter mit aller Kraft kämpfen.
„Der Vogelsberg ist ein abschreckendes Beispiel dafür, wie eine Landschaft zum Industriegebiet wird. Das droht auch unserem Landkreis“, sagen die Naturschützer. „Wir sind schon ein Schwerpunktraum der Windkraft in Hessen. Die großen zusammenhängenden Waldflächen Stölzinger Gebirge, Richelsdorfer Gebirge und Seulingswald, die für den Natur- und Artenschutz so extrem wichtig sind, sollen massiv mit Windkraft bebaut werden.“
Hoffnung machen den Umweltschützern Gerichtsurteile. Der Europäische Gerichtshof zum Beispiel hat vor kurzem entschieden, dass nicht nur Populationen – also Gruppen von bestimmten Arten – schützenswert sind, sondern auch einzelne Tiere. Das also der Einzelschutz nicht entfällt. Schützenswert sind demnach auch nicht akut gefährdete Arten. „Damit besteht die Hoffnung, dass untere Gerichtsinstanzen in Zukunft in diesem Sinne entscheiden“, sagen die Naturschützer.
„Wir verlangen von anderen Ländern, ihre Regenwälder nicht abzuholzen, und bauen gleichzeitig unsere Wälder in Industriewälder um. Das ist schizophren und kontraproduktiv“, betont Sauer. „Das schadet dem Image der Energiewende mehr, als es ihm nutzt“, ist sich auch Gothe sicher. „Wir wollen eine Katastrophe verhindern und reiten uns in eine andere hinein. Wir laufen Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten.“ Der gesetzlich verankerte Landschaftsschutz und die sich aufsummierenden Auswirkungen aller geplanten Eingriffe würden komplett ausgeblendet. „Hersfeld-Rotenburg verliert nahezu widerstandslos unwiderruflich seine Reize, wenn über 30 Windfelder die Landschaft überlasten“, betont Gothe.
„Wir haben Hotspots der Artenvielfalt bei uns im Kreis“, betont Karl Heinz Humburg, der Arbeitskreis-Sprecher der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz (HGON) im Kreis. Der technische Umweltschutz dürfe nicht zum K.o.-Schlag für den natürlichen Umweltschutz werden.
Die Uhr für die aussterbenden Arten laufe schneller ab als für die Klimakrise. „Der Insektenbestand ist bundesweit in den letzten Jahren um 80 Prozent zurückgegangen“, sagt Humburg. Offenbar sollen nur noch Reservate wie der Kellerwald, die Rhön oder der Taunuskamm windkraftfreie Zone bleiben.
Für massive Eingriffe in die Natur haben bislang die alten Industrieformen gesorgt wie Braunkohle oder Verbrennungsmotoren. „Das werden bald die neuen Technologien wie die Windkraft übernehmen“, prophezeien die Naturschützer. Dazu gehören Stromleitungen, Speichereinrichtungen, große Betonfundamente im Waldboden, die nach der Stilllegung einer Anlage nicht entfernt werden müssen und natürlich die Anlagen selbst.
„Der Schutz der Atmosphäre darf nicht auf Kosten der Biosphäre durchgepeitscht werden. Das Beharren auf alten Denkmustern durch Verbrauch von Land, Naturräumen, Bodenschätzen, Luft und Wasser durch ungezügelten Konsum sind Ursachen der Biodiversitäts-, Ressourcen- und Klimakrise“, sagen die Naturschützer aus dem Kreis Hersfeld-Rotenburg.
Dass für die Energiewende riesige Mengen an grünem Strom erzeugt werden müssen, ist auch den Naturschützern klar. „Der Einsatz von Wasserstoff wird kommen. Allein für die Erzeugung des Wasserstoffs bräuchten wir weltweit hunderttausende Windräder“, sagt Karl Heinz Humburg. Hochöfen, die Stahl erzeugen, müssten mit grünem Strom versorgt werden. Und das seien nur zwei Beispiele. „Wir müssten die Welt zupflastern mit Windkraftanlagen“, sagen die Naturschützer. „Mit Windkraft wird in Zukunft Milliarden verdient. So werden jetzt schon zum Beispiel in Griechenland Inseln mit brachialer Gewalt mit Windkraftanlagen zugepflastert. An der Vogelzugstraße von Gibraltar nach Afrika sind die Windparks zur Todesfalle tausender Zugvögel geworden“, sagt Karl Heinz Humburg. In Brandenburg seien die schier unzähligen Windkraftanlagen bereits heute Todesursache Nummer 1 für Rotmilane, betont Gothe.
Die Naturschützer fordern, sich nicht zu sehr auf eine Technologie zu versteifen. Noch längst nicht ausgeschöpfte große Möglichkeiten sehen sie zum Beispiel in dem weiteren Ausbau der Fotovoltaik. Allein beim Landkreis und den Kommunen seien da noch riesige Dach- und Fassadenflächen ungenutzt. Auch an Bahnhöfen könnten bereits asphaltierte Parkplätze überdacht und mit Fotovoltaik bestückt werden. Das sei zum Beispiel in Bebra schon angedacht worden.
Auch müsse geprüft werden, ob der Einsatz anderer Formen von Windrädern, die erheblich kleiner seien, sinnvoll sei.
Die Verantwortung für die Entwicklung in Hessen schieben sie nicht allein der Landespolitik in die Schuhe. Natürlich gebe es auch Druck aus Berlin, die Energiewende umzusetzen, und Druck aus Wiesbaden vom Umwelt- und Wirtschaftsministerium.
„Die Hessische Landesregierung in Wiesbaden stellt jetzt nur scharf, was im Regionalparlament in Kassel schon längst vorbereitet und mehrheitlich beschlossen worden war“, sagt Dieter Gothe.
Von ihren Verbandsspitzen erwarten die Naturschützer eine „Rückkehr zum Kerngeschäft und ein Ende der Alleingänge.“ Sie fordern, dass ihre Expertise berücksichtigt wird. „Man muss auch mal Nein sagen zu einem Bauvorhaben, weil vor Ort gewichtige Gründe dafür zusammengetragen worden sind.“ (René Dupont)