Rotenburger Siegfried Roll verzichtet aufs Rasenmähen und erntet Kritik aus der Nachbarschaft

Ist es Müßiggang? Oder aktiver Naturschutz? Siegfried Roll aus Rotenburg hat das Gefühl, sich erklären zu müssen.
Rotenburg - Der 62-Jährige hat sich dafür entschieden, den Rasen vorerst nicht mehr zu mähen. Seinen Nachbarn gefällt das gar nicht – sie nennen ihn einen „faulen Hund“. Seit sieben Jahren wohnt Siegfried Roll nun schon in seiner Mietwohnung in Rotenburg. So lange ist er auch für die Rasenpflege vor dem Haus zuständig. Doch seinen Handmäher hat er zuletzt vor sechs Wochen bewegt. Das Gras vor dem Haus steht schon auf Kniehöhe, überall sprießen Löwenzahn, Sauerampfer und allerhand andere Wildkräuter aus dem Boden. Was ist da los?
„Das ist eine bewusste Entscheidung“, sagt der Frührentner. „Es ist ein Beitrag zum Artenschutz“, begründet er seine rasenpflegerische Auszeit. In der Nachbarschaft macht sich der Rasen-Rebell mit seiner Sense-Pause aber nicht nur Freunde. „Man bezeichnet mich doch allen Ernstes als faulen Hund. Dabei könnte man genauso darüber reden, warum jemand meint, jede Woche seinen Rasen mähen zu müssen“, sagt Roll.
Schließlich hätten Naturschützer „bei RTL und im HR-Fernsehen“ nachdrücklich dazu ermuntert, die Schneidemaschinen im Mai in der Garage zu lassen. „Das habe ich ausprobiert und bin davon überzeugt, das Richtige zu tun. Jetzt möchte ich andere ermuntern, es auch einmal zu probieren.“ Der Trend, bewusst für ein paar Wochen im Frühling aufs Mähen zu verzichten, kommt übrigens ausgerechnet aus der Heimat des englischen Rasens: aus Großbritannien. Dort hat der gewollte Wildwuchs im Garten sogar einen Namen: „No Mow May“ (mähfreier Mai).
Auch Naturschützer und Gärtnervereinigungen hierzulande rufen vermehrt dazu auf, den Rasentrimmer stehen zu lassen. Anhänger dieser Bewegung wie Bettina de la Chevallerie von der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft verweisen gegenüber der Deutschen Presse-Agentur darauf, „dass sich der Anteil an nektarreichen Blüten um ein Zehnfaches erhöht, wenn man den Rasenmäher häufiger stehen lässt“.
Dass es um die Artenvielfalt früher besser bestellt war, davon ist Siegfried Roll, der einst in der Versicherungsbranche sein Geld verdient hat, überzeugt. Neben der Mietwohnung in Rotenburg hat er auch noch ein Häuschen im Grünen, am Rande des Bebraer Stadtteils Braunhausen. „Als ich es vor 28 Jahren gekauft habe, hatte ich zehn Igelpärchen im Garten. Den letzten Igel habe ich vor fünf Jahren gesehen.“ Und den Rasen mäht er dort schon lange nicht mehr. „Da herrscht echt Wildwuchs.“ Immerhin sei ihm kürzlich eine Blindschleiche begegnet. „Das zeigt doch, wie wichtig es ist, der Natur auch mal freien Lauf zu lassen.“ Und was sagt der Naturschutzbund dazu? Dieter Gothe vom Nabu-Kreisverband Hersfeld-Rotenburg begrüßt es, wenn Gartenbesitzer den Rasenmäher auch mal für eine Zeit im Schuppen lassen. „Jeder sollte versuchen, zumindest eine kleine Ecke im Garten verwildern zu lassen. Schon kleine Rückzugsorte für Insekten und Kleintiere haben eine enorme Wirkung“, sagt er auf Nachfrage.
Siegfried Roll würde am liebsten noch einen Schritt weitergehen. Sein Traum ist eine Petition, die sich für eine Art verpflichtenden Blühstreifen in jedem Garten einsetzt. „Alle Menschen sollten in ihrem Garten vier bis acht Quadratmeter der Natur überlassen.“ Dass er mit seiner Vorliebe fürs Wachsenlassen polarisiert, ist ihm bewusst. „Ich habe zwei Lebensmottos. Eines heißt: Leben und leben lassen. Das wünsche ich mir aber auch von meinen Mitmenschen“, sagt er. Auch wenn der Mai jetzt vorbei ist, hat sich Roll entschieden, seinen persönlichen „No Mow May“ zu verlängern. „Eigentlich wollte ich Ende der Woche wieder den Rasenmäher rausholen. Nach den Beschimpfungen warte ich vielleicht auch noch bis nach Pfingsten.“ Sein zweites Lebensmotto nimmt man ihm jedenfalls ab. Es lautet: „Die einen kennen mich, die anderen können mich.“
Von Sebastian Schaffner