Großropperhausen: Forscherin über kulturellen Wandel

Sie ist dem Zeitgeist auf der Spur und erforscht sein Wesen: Kirstine Fratz, Kulturwissenschaftlerin aus Hamburg war zu Gast in der Gutshofakademie in Großropperhausen zum zweiten Treffen der Zukunftsmanufaktur.
Großropperhausen. Die Sehnsucht ist der Motor der Entwicklung lautet eine der Thesen der 49-Jährigen und nicht die Vernunft. Radikale Empathie ist für Fratz der Motor unserer Zeit schlechthin und habe alte hierarchische Denkmuster verschoben. Sie brachte Beispiele aus dem Zusammenleben. Psychische Gesundheit sei ein hohes Gut geworden, früher hingegen wurde das seelische Befinden gar nicht ernst genommen, eher die Störung gesehen. Es wurde funktioniert, das System nicht in Frage gestellt. Heute sei das System krank, wenn etwas nicht stimmt. Eltern beschweren sich über Lehrer, Angestellte über Chefs. Bis in die Arbeitswelt habe sich der Umgang verändert. Der Mensch stehe im Mittelpunkt, nicht das System. Chefs fragen heute. Du bist wichtig, was brauchst du? Radikale Empathie werde sich weiter entwickeln und sogar helfen die Einsamkeit vieler zu überwinden, ist sich Fratz sicher.
Neue Gemeinschaften würden daraus entstehen. Ein großes Zeitgeistthema sei die Spiritualität. Die Sehnsucht nach der metaphysischen Erfahrung sei groß, die Suche danach finde aber nicht mehr in den Kirchen statt. Enge Strukturen passten nicht zum Zeitgeist. Entwicklung gebe es nur dort, wo starre Systeme in Frage gestellt werden und findige Köpfe neue und andere Wege gehen. Der Mensch strebe immer danach, sich ganz und heil zu fühlen und suche immer weiter, um diesen Zustand zu erreichen. Fratz glaubt, dass aus diesen Entwicklungen in der westlichen Welt eine ganz neue Gemeinschaft wachsen wird, wie wir sie vorher nicht erlebt haben. Immer getrieben von einer kollektiven Sehnsucht. Sehnsucht und Zeitgeist inspirierten zu neuen Lebensqualitäten. Wenn die Strukturen zu eng würden, gebe es neue Sehnsüchte und Menschen die ihnen folgen und ausbrechen: Dafür hat sie den Begriff Spirit Maker geprägt. Diese Menschen gehen voran andere folgen ihnen. In Frage stellen, weniger bewerten und mehr staunen sind Katalysatoren.
„Hinter jedem Trend steckt eine Dynamik“
„Hinter jedem Trend steckt eine Dynamik“, sagt sie. Ein gutes Beispiel sei es in Familie zu schauen. „Die Rollen von Frauen und Männern haben sich geändert, die Erziehung mit ihnen.“ Heute sei es verpönt sein Kind zu disziplinieren, früher gang und gebe. Der heutige Zeitgeist in den Familien, beide kümmern sich um das Kind und nehmen es bedingungslos an, wie es ist. Sie nennt die heranwachsende Generation die „Ich hab dich lieb“ Generation. Was die dann daraus mache, darauf sei sie gespannt.
Die Kulturwissenschaftlerin forscht zum Thema Zeitgeist und berät Firmen wie Gucci, Dolce und Gabanna oder Audi. Sie habe sich von je her gefragt, warum Menschen anders sind, als sie sein sollen und wie gesellschaftliche Entwicklung von statten geht. Zeitgeist sei ein temporäres Versprechen für ein gelungenes Leben, sagt sie. Er wirbele Vorstellungen von richtig oder falsch immer wieder durcheinander. Neues auszuprobieren und zu experimentieren eröffne neue Perspektiven, wie das Leben besser gestaltet werden kann. „Durch den Geist der Zeit bekommen wir Impulse und Ideen, wie eine andere, vitalere Gesellschaft aussehen könnte.“ Das mache Zeitgeist zum Treiber für kulturelle Evolution. „Unsere Kultur biegt mit der nächsten Sehnsucht ab.“ Für Fratz ist die kulturelle Entwicklung der westlichen Welt weit voran geschritten, und immer weiter auf dem Weg, weil sie Sehnsüchte nicht unterdrücke und daher die dynamische Entwicklung unterstütze. Totalitäre Systeme, wie China unterdrückten Sehnsüchte. Aber das Sehnsuchtspotential sei riesengroß.