Gefahr in einem neuen Licht: Olbrich leitet Prüfung ein

Nach den Durchsuchungen in Neukirchen am 20. Mai hat Bürgermeister Klemens Olbrich eine hausinterne Ermittlung angeordnet, denn es gab 2014 definitiv eine Warnung zum erhöhten Gefahrenpotenzial des Teichs im Stadtteil Seigertshausen.
2016 waren drei Kinder in dem Gewässer ertrunken. Die Staatsanwaltschaft Marburg verdächtigt Olbrich und weitere Zeugen der verabredeten Falschaussage. Sie hätten Bescheid gewusst, dies aber zum Schutz des Bürgermeisters verschwiegen. Das weist Olbrich als absurd ab, HNA berichtete. Den HNA-Fragenkatalog zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft will er erst dann beantworten, wenn ein „seriöses“ Prüfungsergebnis vorliegt. Er habe genau die selben Fragen, bis zum Abschluss der internen Untersuchung werde er aber, auch wegen des schwebenden Verfahrens, keine konkreten Erklärungen abgeben.
Mitgliederversicherung für Kommunen, Kreise und kommunale Unternehmen
Immerhin verriet Olbrich, dass es aus seiner Sicht zentral darum geht, wer Zugriff auf die Risikoanalyse des Kommunalversicherers hatte und der unbekannte Hinweisgeber ist. Mittels sogenannter Metadaten seien Rückverfolgungen digital möglich, sagte uns Olbrich. Zu den Metadaten einer Computerdatei gehören der Name, die Zugriffsrechte und das Datum der letzten Änderung. Außerdem wird zu klären sein, welche Bedeutung das entdeckte Versicherungsschreiben hat, wer es falsch beurteilte und welche notwendige Absicherung des Teichs in Seigertshausen womöglich versäumt wurde.
Bei der Versicherung handelt es sich offenbar um die GVV-Kommunalversicherung. Das Unternehmen ist nach eigenen Angaben eine Mitgliederversicherung für Kommunen, Kreise und kommunale Unternehmen. Auf HNA-Anfrage teilte es mit, dass man aus datenschutzrechtlichen Gründen nur mit Zustimmung der Stadt Fragen beantworten werde. Wer die rathausinterne Untersuchung nun führen soll, ist seit gestern wieder offen. Hauptamtsleiter Marian Knauff sollte das übernehmen, doch wegen seiner Kandidatur als Bürgermeister steht Knauff nicht zur Verfügung.
Wer wusste von der Risikoanalyse?
Rund 40 Ermittler hatten am 20. Mai zeitgleich um 8.45 Uhr mit der Durchsuchung der Stadtverwaltung, Privathäusern und der Filiale des Kommunal-Versicherers begonnen. Dabei ist ein Schreiben sichergestellt worden, auf das ein Zeuge die Ermittlungsbehörde wenige Tage zuvor aufmerksam gemacht hatte. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft besteht der Anfangsverdacht, dass eine Schlüsselinformation über das Gefährdungspotenzial des Teichs unterschlagen wurde.
Fortsetzung: "Wir lebten immer mit der Gefahr"
Das Rätselraten um das warnende Schreiben des Kommunal-Versicherers rückt immer schärfer die Beschaffenheit des Westufers des Seigersthäuser Teichs ins Zentrum des Interesses. Bisher galt in unserer Region ganz überwiegend diese Sprachregelung: Dass die drei Geschwister am 18. Juni 2016 tragisch verunglückt sind, niemand hätte dies voraussehen oder verhindern können, eine Warnung hatte niemand ausgesprochen.
Wir lebten immer mit der Gefahr: Das betonte der Ortsvorsteher im Namen der Dorfgemeinschaft vor Gericht. Viele Generationen von Seigertshäusern verbrachten unzählige Stunden ihrer Kindheit spielend an diesem Teich, sommers wie winters. Das ganze Areal war offiziell seit 2002 ein reines Freizeitgelände. Ein Zaun wäre als hinderlich, zu teuer und optisch störend empfunden worden – das wurde nach dem tragischen Geschehen immer wieder ins Feld geführt.
Mädchen hatte Spuren an Händen und Fingernägeln
Doch 2014 geschah in sicherlich bester Absicht etwas, das, wie man heute weiß, vermutlich schreckliche Folgen hatte: Der oft undichte Damm am Westufer zur Ortsmitte hin wurde stärker befestigt. Bisamratten waren ein Problem gewesen, ist zum Beispiel in einem Schülerbericht im HNA-Archiv nachzulesen. Auch vor Gericht ging es Anfang dieses Jahres um die Arbeiten mit überschüssigen Betonpflastersteinen in Eigenleistung der Ortsbevölkerung.
Erschütternde Details brachte ein Gutachten zu Tage, das in der Verhandlung hinzugezogen wurde: Demnach zeigten die Spuren an Händen und Fingernägeln des ertrunkenen Mädchens Verletzungen, die auf vergebliches Greifen rückschließen ließen.
Eine Begehung mit dem Versicherer soll es nie gegeben haben
Auch wurde bekannt, dass eine Einsatzkraft im Zusammenhang mit der Bergung der Kinderleichen an dieser Uferseite nicht aus eigener Kraft aus dem Wasser konnte, man musste ihm eine Steckleiter reichen. Wo der sogenannte Damm verläuft, ist der Teich am tiefsten, und dort befindet sich logischeweise auch der Auslass. Nun tut sich die Frage auf, wer den kommunalen Versicherer vor über sechs Jahren überhaupt auf diese bauliche Veränderung hingewiesen hatte und Fotos schickte, sodass diese mit dem bewussten Antwortschreiben reagierte. Eine Begehung mit dem Versicherer soll es nie gegeben haben. Wie uns Bürgermeister Olbrich diese Woche bestätigte, handelte es sich um eine E-Mail mit angehängten Fotos. Olbrich sagte der HNA zugleich: „Von mir aus hätte alles auf den Tisch kommen sollen im Prozess.“ Weiterhin sei ihm einfach daran gelegen, dass „alles aufgeklärt wird“.
Die Auswirkungen der Angelegenheit auf die Mitarbeiter der Stadtverwaltung sind unterdessen offenbar gravierend, das gegenseitige Vertrauen angegriffen. So berichtet Stadtverordnetenvorsteher Willi Berg gegenüber der HNA, dass es der Belegschaft mit der Situation schlecht gehe. Wer von ihnen von einer Hausdurchsuchung betroffen war, ist bislang nicht öffentlich geworden.
Fragen und Antworten
Bei Durchsuchungen in Neukirchen im Rathaus und in sechs Privathäusern nahmen 40 Ermittler Smartphones, Datenträger und Akten mit. Wir beantworten weitere aktuelle Fragen zu dem Vorgang sowie der Anschuldigung, Zeugen hätten gelogen beziehungsweise seien dazu angestiftet worden.
Wie liefen die Durchsuchen ab und was wurde gefunden?
Sie begannen zeitgleich im Rathaus, in den Privathäusern und in der Filiale eines Kommunal-Versicherers in Wiesbaden, alle kurz vor 9 Uhr am Mittwoch vor Himmelfahrt.
Wonach suchten die Ermittler?
Nach einem Schriftstück aus dem Jahr 2014 vom Versicherer an die Stadt Neukirchen, jedenfalls unter anderem. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft bestätigte der HNA diese Woche, dass es sowohl bei der Versicherung als auch im Rathaus gefunden wurde.
Das Papier, bei dem es sich um eine Risikoanalyse zum Teich nach einer Dammbefestigung 2014 handeln soll, war den Ermittlern also völlig neu?
Das ist so, laut Rust kannte es die Staatsanwaltschaft zuvor nicht.
Wie kamen die Ermittler auf die Existenz des Schreibens?
Durch einen Zeugen. Zu dem äußert sich die Staatsanwaltschaft natürlich nicht, folglich weiß man auch nichts über die Gründe des Zeugen oder der Zeugin, sich jetzt, so viele Wochen nach der Verurteilung Olbrichs am 20. Februar, zu melden. Für Außenstehende ist die Motivation völlig uneinsichtig. Sprecher Rust sagte, der Betreffende sei erst vor Kurzem auf die Behörden zugegangen, in einem Zeitraum von höchstens 14 Tagen. Aus dem Raum Neukirchen und Nachbarorten ist zu hören, dass die Aktion von den Betroffenen überfallartig empfunden wurde, zudem Unbeteiligte ihre Handys abgeben mussten. Sprecher Rust sagte der HNA auf Anfrage: „Es ging nicht über das übliche Maß hinaus, normales Procedere.“ Es seien je zwei bis drei Beamte plus ein EDV-Spezialist gewesen. Selbstverständlich habe es zeitgleich stattfinden müssen.
Diesen Zeugen, die alle im Prozess im Januar und Februar vor dem Treysaer Amtsgericht ausgesagt hatten, wird vorgeworfen, dass sie gelogen hätten, um eine Bestrafung Olbrichs zu vereiteln. Sie hätten verneint, dass sie von der Warnung der Versicherung gewusst hätten. Was kann die Folge sein?
Es kann zu einer Anklage wegen Falschaussage kommen. Wenn, dann finden die Verfahren wiederum vor dem Amtsgericht Treysa statt, wegen der örtlichen Zuständigkeit. Bei einer Verurteilung drohen sogar Haftstrafen. Nahe Beobachter gehen davon aus, dass sich alle bereits einen Anwalt gesucht haben. Wann das Berufungsverfahren vor dem Landgericht Marburg, das Anklage und Verteidigung verlangt haben, beginnt, dazu gibt es noch keine Angaben. Allein die Datenauswertung der eingezogenen Handys und Computer wird Wochen dauern.
Hat die Kommunalversicherung das Teichgelände 2014 überhaupt überprüft?
Nicht aktiv, die Initiative für eine Begutachtung geht in der Regel von einer Kommune aus. Das war offenbar auch bei dem Teichgelände in Seigertshausen der Fall. Eine Risikobewertung kann auch bei bestehenden Objekten umgesetzt werden. Es ist durchaus üblich, dass nach Baumaßnahmen wie damals am Seigertshäuser Teich eine Neubewertung der möglichen Gefahren erfolgt. Das dient auch der Absicherung der Kommune und ist allgemein üblich.
Muss eine Kommune der Empfehlung der Versicherung folgen?
Sollte bei einer Begehung beziehungsweise Bewertung durch die Versicherung eine Gefahr festgestellt werden, rät der Hessische Städte- und Gemeindebund den Kommunen die von der Versicherung gemachten Vorschläge zu berücksichtigen. Geschieht das trotz besseren Wissens nicht, handeln die Verantwortlichen grob fahrlässig. Die Beseitigung einer Gefahrenstelle kann dabei auch durch eine gleichwertige Ersatzmaßnahme erfolgen. Im Fall eines Gewässers wie in Seigertshausen hätte beispielsweise statt eines Zauns auch der Wasserspiegel abgesenkt werden können.