Im Interview: Kulturanthropologin Heidrun Merk über die Schwälmer Tracht

Schwälmer Laufsteg – Das ist die Schwalm durch die Mode betrachtet, angefangen von einem kritischen Blick auf die Tracht, der Region als Standort für Mode-Produktion bis hin zu aktuell Kreativen und der Kunst.
Holzburg – Über die Schwälmer Tracht, ihren Ursprung und ihre Entwicklung haben wir mit Kulturanthropologin Heidrun Merk aus Holzburg geredet.
Die Schwälmer Tracht zählt zu den ältesten in Deutschland. Wie kam es zu dieser Kleiderordnung?
So viel ich weiß, hat sich die Tracht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der bäuerlichen Kleidung heraus entwickelt. 1772 gab es die letzte Kleiderordnung der Landgrafen in Kassel. Darin steht, dass die ländliche Bevölkerung nur das tragen darf, was sie auch selbst herstellt, nämlich Leinen und Wollstoffe.

Die Stände sollten nach dem Willen der Obrigkeit klar unterscheidbar sein. Außerdem waren teure Luxusstoffe wie Samt und Seide mit Einfuhrzöllen belegt, die man sich sparen wollte. Warum die Schwälmer trotzdem Samt und Seide, Stickereien mit Gold- und Silberfäden trugen, ist unklar. Jedenfalls ist eine neue „Kleiderordnung“ entstanden, die sich die Schwälmer selbst gaben.
Der Einfluss der höfischen Mode und des Militärs ist unverkennbar. In jedem Fall ging es um soziale Differenzierung.
Wie hat sich die Tracht im Laufe der Jahrhunderte verändert?
Die Röcke werden immer kürzer, die Kappen immer kleiner. Es gibt keine Trachtenregion, die so kurze Röcke hat, wie die Schwälmer Tracht.
Was fasziniert Sie an der Tracht?
Die Stoffe wie Leinen, Tuch, Brokat, Samt, Seide, die Seidenbänder und Seidentücher, die kostbare Bunt- und Weißstickerei. Kurz: die Handwerkskunst und Schönheit der Tracht
Diente die Schwälmer Tracht zum Schutz vor dem Wetter, ist sie eine Mode, ein Denkstil?
Nein, sie ist wie in anderen Regionen ein Statussymbol zur sozialen Differenzierung der Bevölkerung. Es ging darum, reich zu reich zu heiraten und um Identität und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Region, die sich nur in reicheren bäuerlichen Regionen herausgebildet hat. Im Vogelsberg zum Beispiel gibt es keine Tracht.
Kleidung ist ein Kommunikationsmittel und ein Weg, soziale Distinktion zum Ausdruck zu bringen. Symbolisierte die Tracht nicht insbesondere auch die Standesunterschiede der ländlichen Bevölkerung? Die „stolze“ Schwälmer Tracht, wie wir sie von Festumzügen und Ausstellungen kennen, trugen ja vermutlich die wenigsten?

Genau, man erkannte sofort, welcher Stand, rot für Jungfrauen, grün für Verheiratete und „blo“ für Frauen nach der Menopause, beziehungsweise schwarz für die Alten. Man erkannte, welchen sozialen Status jemand hatte, auch Trauer und Halbtrauer wurde angezeigt. Die ärmeren Schichten hatten Mühe, mitzuhalten und versuchten durch Tricks das Volumen der Röcke zu erreichen.
Zur Hochzeit liehen sie sich etwas aus. In der Hochzeitstracht ist übrigens auch viel Dämonenabwehr verborgen, da gehören die Bernsteinketten dazu.
Wissen, Macht, Tracht: War sie nicht insbesondere für Frauen ein Stigma? Ihr Status war weithin abzulesen.
Die Standesunterschiede waren überall Realität. Das wurde nach außen gezeigt. Eine Frau aus der Unterschicht konnte niemals einen reichen Bauern heiratet. Das war normal. Als Stigma würde ich das nicht bezeichnen. Das geht mir zu weit. Die Kleidung zeigt nur das tatsächliche soziale Gefälle in der bäuerlichen Gesellschaft.
Es gab die grundbesitzenden Bauern, die mit kleinem Besitz und die Habenichts, die sich als Taglöhner verdingen mussten. Der Grund und Boden wurde immer von reich zu reich weitervererbt und war ja auch nicht teilbar.
Konnte es sein, dass manche Frauen aus der dunklen, düsteren Trauertracht gar nicht mehr herauskamen?
Ja, das war sicher so.
War insbesondere die Schwälmer Frauentracht nicht auch eine Art familiäre Sparmaßnahme? Einmal angefertigt wurde sie über Generationen weitervererbt. Manche Frauen haben nie eigene Kleidung besessen, mussten sich niemals einem Modestil anpassen.
Die Aussteuer für alle Jahrgangsstufen wurde zur Hochzeit angefertigt. Da trug man schon grün, denn grün ist die Farbe der Fruchtbarkeit und es ging ums Kinderkriegen. Man wusste immer, was man wozu zu tragen hatte. Ich denke, das war eher eine Erleichterung, dass man nicht immer überlegen musste, was man anziehen sollte. Aber klar, es war sehr aufwendig, die Tracht anzulegen.
Die männliche Tracht ist schon lange aus dem Schwälmer Alltag verschwunden, die weibliche wird von einigen wenigen Frauen bis heute noch getragen. Warum ist das so?
Die Tracht ist heute nicht mehr notwendig, denn die soziale Differenzierung zeigt sich heute anders oder wird verunklart. Die Tracht ist heute ein Symbol für Tradition und Identität der Schwalm. Sie wird oft sehr stark ideologisch überhöht. die Arbeitstracht wird überhaupt fast nie gezeigt.

Dass die Schwälmer Tracht so lange getragen wurde, hat auch mit der Künstlerkolonie in Willingshausen zu tun. Denn die Bilder von den Schwälmerinnen und Schwälmern hingen in den bürgerlichen Stuben, wurden gern gekauft, oft auch als billige Drucke, und symbolisierten das „gute, alte intakte Landleben“, in dem die Welt – im Gegensatz zu den verderbten Städten noch in Ordnung war.
Die Bürger erfreuten sich darüber, machten sich aber auch manchmal über die Bauern lustig. Die Männer sind oft früh aus der Schwalm zum Arbeiten im Straßenbau oder den Industriegebieten weggegangen. Dafür brauchten sie keine Tracht.
Ist die Tracht heute Kult in der Schwalm?
Heute wird die Tracht in den Trachtenvereinen gepflegt, allerdings ziemlich unkritisch. Im Museum kann man sehen, wie sich die Tracht entwickelt und verändert hat. Sie ist aber insgesamt ein wichtiges Symbol für die Region, sollte aber entmythologisiert werden, finde ich jedenfalls.
Zum Rotkäppchenland gehört ja auch der Wolf und den finde ich viel spannender als das putzige, kindliche Rotkäppchen. Das Märchen ist ja, wie man weiß, ein „welsches Märchen“, das mit der Schwalm gar nix zu tun hat und von den Grimms nicht in die ersten Ausgaben ihrer Märchensammlung aufgenommen wurde. (Sylke Grede)