Die Nachwelt braucht die Wahrheit: die Geschichte Heinz-Josef Großes

Vor 51 Jahren wurde der damals 34-jährige Heinz-Josef Große am Schifflersgrund bei seinem Fluchtversuch aus der DDR erschossen. Das Grenzmuseum Schifflersgrund hält Großes Geschichte für die Nachwelt lebendig.
Sickenberg – Der 29. März 1982. Ein Tag, den die Menschen im Werratal nicht vergessen, auch nach 51 Jahren nicht. An diesem Tag versuchte Heinz-Josef Große mit einem Radlader über die innerdeutsche Grenze im Schifflersgrund bei Bad Sooden-Allendorf aus der DDR zu flüchten, wurde aber beim Fluchtversuch von zwei DDR-Grenzsoldaten hinterrücks erschossen. Er starb, nur wenige Meter von der Grenze zur Bundesrepublik entfernt, auf einem steil ansteigenden Hang.
Diese Bluttat löste damals nicht nur in Deutschland, sondern europa- und weltweit Entsetzen aus. Der Mord wurde international verurteilt. Sogar in Büchern verarbeiteten einige Autoren die Tat. So wie Henri Lesewitz, ein früherer DDR-Bürger, in dem lesenswerten Roadmovie und Roman „Endlich Reisen“, in dem sich der Autor mit den dramatischen Ereignissen des 29. März 1982 im Schifflersgrund befasst.
Henri Lesewitz wurde in der DDR früh als Radsporttalent entdeckt, war nach entsprechender Förderung bald ein Elitefahrer und Olympia-Kandidat, wird aber wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ von einem Tag auf den anderen vom System fallengelassen. Kein Einzelfall in der DDR.
„Ein neues Leben beginnt“
Für den jungen Henri Lesewitz begann, wie er in seinem Roman voller Euphorie schreibt, „am Nachmittag des 11. November 1989 ein vom bundesdeutschen Steuerzahler in Form des Begrüßungsgeldes gesponsertes neues Leben. Ich spürte, dass mein Leben jetzt erst richtig anfängt. Die DDR war mausetot, ich war Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Ich besaß ein nagelneues Mountainbike mit 21 Gängen. Ich hatte 248 D-Mark auf dem Konto. Ich fühlte mich wie Gott“.
Der Noch-Radsportler Henri Lesewitz bricht zwanzig Jahre später mit seinem Mountainbike zu einer Fahrt entlang des ehemaligen Grenzstreifens von der Lübecker Bucht bis nach Thüringen auf. Er besucht viele Grenzorte, auch das Grenzmuseum Schifflersgrund bei Bad Sooden-Allendorf. Empfangen und durch das Museum geführt wird er von Wolfgang Ruske, dem immer noch aktiven Mitgründer des Museum und Vorsitzenden des Trägervereins „Arbeitskreis Grenzinformation“.
Hauptkommissar Ruske war von 1982 bis 1991 Leiter der Schutzpolizei in Eschwege, als Infostelle für diesen Grenzbereich im Schifflersgrund verantwortlich. Von 1992 bis 2000 war Ruske später bis zu seiner Pensionierung dann Leitender Polizeidirektor in Nordhausen.
26 Menschen sterben an Grenze
Wolfgang Ruske, an jenem 29. März 1982 im Dienst, war wenige Stunden später selbst am Tatort, sah die Relikte dieser Tat, ohne wie seine anderen Polizeikollegen eingreifen zu können. Denn Große lag wenige Meter vom Grenzzaun, aber noch auf DDR-Territorium. Ruske: „Wir mussten damals viele über die Tat aufgebrachte und wütende Menschen beruhigen“.
Warum er nicht nur Henri Lesewitz, in den Jahren nach Gründung des Museums trotz beruflicher Verpflichtungen viele Tausend Menschen durch das Grenzmuseum führte und an die Ereignisse erinnerte, beantwortet Ruske so: „26 Menschen sind damals an der Grenze zwischen Thüringen und Hessen gestorben. Wie soll die Nachwelt die Wahrheit erfahren, wenn nicht durch uns und unser Grenzmuseum?“. Das ist Wolfgang Ruske bis heute noch sein Engagement wert.

Von diesen Ereignissen erfuhr auch Henri Lesewitz. Von Ruske, der seinem Gast die Tat schilderte, wie bei so vielen Führungen vorher schon.
An jenem 29. März 1982 arbeitete der 34-jährige Zivilist Heinz-Josef Große aus der Eichsfeldgemeinde Thalwenden mit seinem Frontlader in der Nähe des Grenzzaunes, führte Erdarbeiten für einen neuen Beobachtungsturm aus. Als die ihn bewachenden Grenzposten sich etwas entfernten, fuhr Große an den verminten und mit einer Selbstschussanlage versehenen Zaun, legte den Ausleger des Frontladers über Zaun und Stacheldraht, kletterte auf den Ausleger, springt über den Zaun und versucht, über die steile Böschung die Grenze zu erreichen.
Aber die beiden zurückeilenden Grenzposten bemerkten Großes Fluchtversuch. Auf einige Warnschüsse, die der Flüchtende ignoriert, folgte gezieltes Maschinengewehrfeuer, das Große in den Rücken trifft. Er bricht in der Mitte des Hanges zusammen und verblutet dort. Die eingetroffenen westdeutschen Grenzbeamten, die Polizei aus Eschwege und eine große Menschenmenge musste tatenlos zusehen, wie Großes Leiche später von DDR-Soldaten abtransportiert wurde.
Schützen später verurteilt
Die Beisetzung erfolgte in Großes Heimatgemeinde Thalwenden. Wolfgang Ruske erzählt: „In der Traueranzeige durfte seine Mutter keinerlei Formulierungen verwenden, die Rückschlüsse auf seinen unnatürlichen Tod ermöglicht hätten“. Aber Ruske und seine Kollegen konnten wenigstens registrieren, dass die Grenzsoldaten, die Große erschossen hatten, 1996 vom Landgericht Mühlhausen für ihre Tat zu Jugendstrafen auf Bewährung verurteilt wurden.
Für Heinz-Josef Großes Familie nur ein schwacher Trost. Umso erfreulicher diese Nachricht von Wolfgang Ruske: „Um die Erinnerung an Heinz-Josef Große wach zu halten“, soll im Grenzmuseum Schifflersgrund bald eine Gedächtnishalle entstehen, die Großes Namen trägt, und in der neben vielen Unterlagen auch der von ihm gefahrene Frontlader stehen wird, der vor Kurzem gründlich überholt wurde.

Stasi beschoss die eigenen Leute
Wolfgang Ruske konnte seinem Gast noch von weiteren Ereignissen im Grenzgebiet berichten, vermutlich von der Stasi geplant und ausgeführt: „Die Stasi war eine verbrecherische Organisation, die das eigene Volk einkerkerte. Die Grenze war eine perfide Tötungsanlage gegen die eigene Bevölkerung“.
An einen Zwischenfall erinnert sich Ruske besonders, schildert ihn einem erschütterten Zuhörer Lesewitz: „Wussten Sie, dass die Stasi im Herbst 1989 heimlich die Grenze hier bei Wahlhausen überschritten und auf DDR-Wohnhäuser geschossen hat? Sie wollte so die in der DDR beginnende Revolution als Provokation des Westens aussehen lassen. Sie haben geschossen, jawohl, auf die eigene Ortschaft! Ja, das ist nämlich kaum bekannt“. Natürlich hat die Stasi das bestritten, brachte „westdeutsche Provokateure“ ins Spiel, blieb aber jeden Beweis schuldig.
Ein von Wolfgang Ruskes Schilderungen erschütterter Lesewitz folgerte: „Für die meisten DDR-Bürger war die Grenze weit weg, ein abstraktes Gebilde, weil man uns die Tatsachen, wie die Fluchtversuche vorenthielt. Aus dem Westfernsehen wussten wir aber, dass an der Grenze geschossen wurde. Dass aber über 800 Menschen hier ihr Leben verloren, wissen wir erst nach dem Mauerfall“.
Henri Lesewitz, nach dem Museumsbesuch und vor der Weiterfahrt nach seinen Gedanken befragt: „Wissen ist das eine. Jetzt weiß ich auch, dass sie an dieser Grenze Menschen erschossen haben. Das Gefühl ist schrecklich!“ Und dieses Gefühl begleitete Lesewitz noch viele Tage während seiner Grenzfahrt – vermutlich auch heute noch. Hinweis: „Endlich Rasen“ von Henri Lesewitz (288 Seiten) ist im Verlag Delius Klasing Bielefeld erschienen. (SIEGFRIED FURCHERT)