Ein Eschweger berichtet über die eigene Obdachlosigkeit

„Es ist schwer rauszukommen“, weiß Marcel Petersen (Name von der Redaktion geändert) über die Obdachlosigkeit. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen.
Werra-Meißner – Nicht alle Menschen im Werra-Meißner-Kreis haben eine offiziell Meldeadresse. Sie gelten demnach als obdachlos. Von seinen Erlebnissen der Obdachlosigkeit erzählt Marcel Petersen. Er ist zweieinhalb Jahre in Kiel und ein knappes Dreivierteljahr in Flensburg obdachlos gewesen. Heute lebt er in Eschwege.
Herr Petersen, wie sind Sie erstmals obdachlos geworden?
Durch einen Fehler meiner gesetzlichen Betreuung. Ich habe in Kiel aufgrund psychischer Probleme in einem betreuten Wohnen gelebt. Dort sollte ich eine Tagesstruktur finden. Die Betreuerin hat mich dort abgemeldet, weil sie dachte, ich würde zu meiner damaligen Freundin ziehen. Anstatt das vorher mit dem Vermieter meiner Freundin zu klären, hat mich die Betreuerin direkt abgemeldet.
Was macht man, wenn man auf einmal keinen Wohnsitz mehr hat?
Ich musste mich beim Rathaus ohne Wohnsitz melden. Dann ging es weiter zur Wohnungs- und Obdachlosenhilfe Kiel. Dort musste ich zu Beratungsterminen gehen, damit ich weiterhin Arbeitslosengeld II bekommen konnte. Außerdem hatte ich da eine Postmeldeadresse. Die steht zwar nicht auf dem Personalausweis, aber zweimal wöchentlich sollte ich hinkommen, um nach meiner Post zu fragen, und Hilfe bei der Wohnungssuche bekommen.
Hat das in Ihrem Fall funktioniert?
Das hat überhaupt nicht funktioniert. Irgendwann habe ich selbst über einen ehemaligen Arbeitskollegen eine Wohnung bei einem Privatvermieter gefunden.
Also durch Eigeninitiative?
Ja – mit viel Glück. Viele wissen nicht, wie schwer es ist, als Obdachloser eine Wohnung zu finden. Oft wollen Vermieter eine Auskunft des vorherigen Vermieters sehen, die man als Obdachloser nicht liefern kann. In Kiel gibt es sehr viele Wohnungsgesellschaften. Die wollen, dass das eigene Gehalt dem Dreifachen der Miete entspricht. Ich denke, jeder Obdachlose würde sich über eine Ein-Zimmer-Wohnung freuen. Aber es ist schwer, rauszukommen, wenn man einmal wohnungslos war. Für mich ging es dann aber in Flensburg wieder los.
Wie kam es dazu, dass Sie wieder wohnungslos geworden sind?
Meine Frau kommt aus Flensburg. Damals waren wir verlobt und ich musste meine Wohnung in Kiel kündigen, weil geplant war, dass wir zusammenziehen. Ich konnte mich nicht in der Wohnung meiner Frau anmelden, da es Probleme mit dem Vermieter gab. Zwei Wochen nach meiner Hochzeit war ich noch gemeldet, dann ging es wieder von vorn los, weil der Vermieter mir die Vermieterbescheinigung nicht geben wollte. Letztendlich sind meine Frau und ich nach Eschwege gezogen. Seitdem bin ich Eschweger.
Hatten Sie in Kiel Unterstützung von Freunden oder Ihrer Familie?
In den zweieinhalb Jahren habe ich hauptsächlich bei Freunden und der Familie geschlafen. Auf der Straße habe ich nie so wirklich leben müssen. Manchmal war es so, dass es von Anfang an hieß, dass ich einige Nächte bleiben kann, aber etwas zur Verpflegung beisteuern muss. Das ist ja auch klar. Einige wollten mir auch bei der Wohnungssuche helfen, aber das war wie gesagt schwierig.
Wie sah Ihr Alltag während dieser Zeit aus?
Viele Termine in der Woche. Dazu gehören Wohnungsbesichtigung und viel mehr behördliche Termine, als ich sie jetzt wahrnehmen muss. Das gilt auch für die Zeit, in der ich in Flensburg zwar bei meiner Frau wohnen konnte, aber offiziell wohnungslos war. In Kiel war ich viel draußen an der frischen Luft. Da hatte ich die Sorge: Wo penne ich als Nächstes? Man muss auch ständig zur Poststelle, wenn man als obdachlos gilt. Da ist es egal, ob man krank ist oder nicht. Sonst wird man abgemeldet. Wenn man dann zum Beispiel auf Rechnungen nicht reagieren kann, wird man polizeilich gesucht. Ich habe erlebt, wie sich jemand nicht bei seinem Bewährungshelfer melden konnte, weil er von der Poststelle abgemeldet wurde. Er wurde daraufhin gesucht und abgeführt.
Was haben Sie den Tag über unternommen?
Meistens war ich bis spät abends unterwegs. Da wird man von allen angeschaut. Der Haupttreff in Kiel war der Hauptbahnhof. Einige sind irgendwann alkohol- oder drogensüchtig geworden. Ich habe mich bis jetzt immer davon ferngehalten. Aber es gibt manchmal Tage, an denen man morgens auch einfach mal ein Bier mittrinkt, weil man ja nichts zu tun hat. Vor allem mittwochs, wenn die Ämter geschlossen sind. Und es gibt einen Beschäftigungsverein. Da kann man sich 2 Euro am Tag dazuverdienen, das war so, als ich da war. Es waren auch schon mal 1,50 Euro pro Tag. Aber man bekommt dort ein warmes Mittagessen, wenn man dort arbeitet. Ansonsten bezahlt man 3 Euro für das Essen.
Welche Aufgaben hat man dort?
Das ist ein kleiner Schrebergarten: Gartenarbeit, Sachen zusammenbauen oder basteln. Wer Hunde hat, darf sie mitbringen. Die Mitarbeiter dort helfen einem aber auch, zum Beispiel bei der Suche nach einem Therapieplatz.
Wer wusste damals, dass Sie keinen festen Wohnsitz hatten?
In Flensburg nur meine Eltern und mein bester Freund. Aber es wird immer auch im Personalausweis eingetragen. In Kiel steht da zum Beispiel: ohne festen Wohnsitz, gemeldet in Kiel. In Flensburg stand beim Wohnort: unbekannt. Und den Personalausweis muss man ja bei Ämtern vorlegen oder manchmal beim Einkaufen vorzeigen.
Wie war es für Sie, als Sie das zum ersten Mal auf Ihrem Personalausweis gelesen haben?
Gruselig oder beängstigend. So war es für mich. Es ist auch unangenehm, wenn man nach dem Personalausweis gefragt wird, zum Beispiel beim Einkaufen an der Kasse. Oder dass man bei einer Kontrolle mit zur Polizei muss, weil sie noch einmal gegenprüfen, ob der Ausweis tatsächlich zur jeweiligen Person gehört.
Wie haben Menschen beim Blick auf Ihren Personalausweis reagiert?
Oft waren sie erstaunt. Dann hieß es: „Oh! Das wusste ich gar nicht.“ So war es beim Einkaufen oder, wenn ich in einem Buchladen etwas vorbestellt habe. Viele kennen Poststellen für Obdachlose nicht. Denn dann hat man eine andere Postadresse als auf dem Personalausweis.
Welche Erfahrungen haben Sie mit Hilfsangeboten gemacht?
Ich finde, dass es in Kiel am besten geregelt war. Da war das Jobcenter im Gebäude der ZBS (Zentrale Beratungsstelle für wohnungslose Männer). Die Mitarbeiter haben sich mit einem hingesetzt und darüber beraten, wie sie am besten helfen können. Einmal pro Monat konnte man sich einen Bekleidungsgutschein holen. Dann bekam man von Kopf bis Fuß neue Kleidung beim Roten Kreuz. In Flensburg war ich beim Johanniskirchhof. Dort musste ich zwar einmal wöchentlich nach Post fragen, aber weitere Hilfe gab es nicht. Als ich in Eschwege gelebt habe, wollte ich der damalige Freund meiner Stieftochter obdachlos melden. Vier Wochen lang habe ich versucht, ihm zu helfen. Hier wird zwar aufgeführt, wo man sich melden kann, aber hier geht das Thema stark unter. An vielen Stellen hieß es, dass man nicht zuständig sei. Ich habe dann dafür gesorgt, dass er seine Postadresse bei uns hatte. Als er die Beziehung zu meiner Stieftochter beendet hat, ist er wieder nach Flensburg gegangen.
Welche Hilfsangebote würden Sie sich wünschen?
Es kann immer passieren, dass jemand auf der Straße landet. Man sollte für die Menschen da sein. Ich würde mir mehr geförderten Wohnraum oder Wohngemeinschaften für Obdachlose wünschen. Die Hauptsache ist, dass sie eine Wohnung haben. Dann kann man sehen, wie es weitergeht.
Wie reagieren Sie heute, wenn Sie einen Menschen sehen, der obdachlos ist?
Also ich bin hilfsbereit, es ist aber auch schon ausgenutzt worden. In Flensburg habe ich zum Beispiel einem Menschen Futter für seinen Hund und ihm selbst eine Flasche Wasser gegeben. Bei Geld sollte man meiner Meinung nach aber vorsichtig sein, wenn jemand zum Beispiel suchtkrank ist. Manchen gebe ich auch mal eine Zigarette. Ich weiß, dass zum Beispiel in Kiel bei vielen bereits nach zwei Tagen das Arbeitslosengeld aufgebraucht ist. Das gibt es. Lebensmittel sind teuer und Imbissbuden auch. Wenn man sich zum Beispiel für 400 Euro nur von Fast Food ernährt, ist das Geld schnell weg.
(Eden Sophie Rimbach)