Wahrzeichen des Netratals: Das Gotteshaus in Netra beherbergt seltene Kunstschätze

Netra. 85 Gotteshäuser der evangelischen Kirche gibt es im Verbreitungsgebiet unserer Zeitung – jede Kirche hat mindestens eine spannende Geschichte zu erzählen. Dieses Mal an der Reihe: die Kirche von Netra.
Der mächtige Netraer Kirchturm, flankiert von vier Wachhäuschen, ist nichts weniger als das Wahrzeichen des Netratals. Bereits aus vielen Kilometern Entfernung ist er auszumachen, und auch aus der Ferne büßt er keinen Deut seiner überwältigenden Imposanz ein.
Der Kirchturm ist es auch, der als einziger Bestandteil der ursprünglichen gotischen Kirche zu Netra erhalten blieb. Kriege, die im Ort wüteten, Blitzeinschläge und verheerende Feuer hat er von 1480 bis zum heutigen Tag überstanden; fest und unerschütterlich.
Im Inneren der Kirche ist es der Altarraum unter dem Turm, welcher die vielen Schätze des Gotteshauses beherbergt: Die wertvollen Reste eines 1708 durch ein Gewitter beschädigten Flügelaltars etwa – ein Beweinungsaltar. Ein Teilstück zeigt den heiligen Christopherus, Schutzpatron der Reisenden, ein anderes die Beweinung Christi. Der unbekannte Meister der im Hochrelief ausgeführten, wohl um 1450 entstandenen Holzschnitzerei dürfte der Erfurter Mönchsschule zuzuordnen sein, weiß Pfarrerin Andrea Kaiser.

Drei der geretteten Figuren – der Gekreuzigte, Maria sowie Johannes der Täufer – zieren den Altar. „Weitere Bestandteile des beschädigten Altars wurden vom damaligen Pfarrer Karl Schuchhardt (Dienstzeit in Netra: 1871 bis 1874) gegen neue Abendmahlsgeräte eingetauscht, die sich noch heute im Besitz der Pfarrei befinden“, sagt Pfarrerin Andrea Kaiser. Die besonders wertvolle, über 500 Jahre alte Taufschale habe ebenso über alle Zeiten und Wirren hinweg gerettet werden können.
Die Kirche in Netra wurde 1842 als zweckmäßiger Bau errichtet
Die Kirche selbst wurde um 1842 nach dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit, ohne Anpassung an den Baustil des gotischen Kirchturms, errichtet. Das Gotteshaus erfüllt die Kriterien einer Biedermeierkirche: Der Innenraum ist streng klassizistisch ausgestaltet, Verzierungen fehlen nahezu völlig, und ausgerichtet ist er ganz auf den Predigtgottesdienst. Das Gotteshaus wurde an der Stelle der ehemaligen, nach dem Apostel Jakob benannten St. Jakobuskirche erbaut.

Im Jahr 1952 schließlich folgten unter Pfarrer Happel umfassende Renovierungsarbeiten im Inneren der Kirche. „Dabei wurde der alte Chorraum, der bis dato durch eine Bretterwand vom Kirchenschiff abgetrennt war, wieder harmonisch in den Innenraum eingegliedert“, sagt Andrea Kaiser.
1978 begannen weitere Arbeiten der Außen- und Innensanierung. Dabei wurde unter anderem das Kirchendach komplett erneuert; der Fußboden wurde mit Sandsteinplatten ausgelegt, das Gestühl im Kirchenschiff und auf den Emporen erneuert sowie die Emporen von drei auf zwei reduziert. Das Gotteshaus wurde mit einem neuen Anstrich versehen, welcher die Originalfarben des Jahres 1842 wieder hervorbrachte.
Auf Umwegen zur Glocke: Vier Besonderheiten und Geheimnisse der Kirche zu Netra
Mit einer ganzen Reihe an Besonderheiten und Geheimnissen wartet das Gotteshaus in Netra auf. Wir lüften vier davon:
- 1. Direkt vor dem Altar, verborgen von einem schweren Teppich, befindet sich das Grab des Pfarrers Johannes Bodenstein. Er starb im Jahr 1703 im Dienst an einem Schlaganfall. In seinen Aufzeichnungen hatte Bodenstein zuvor häufig über die zunehmende Verwaltungsarbeit geklagt – und ausgiebig über seinen Vorgänger Burkhard Heise. Pfarrer Johannes Bodenstein war es im Übrigen auch, der die erste Einwohnerzählung Netras vorgenommen hat.
- 2. Im Außenbereich der Kirche erinnert noch heute ein Gedenkstein an Abel Becker (1886 bis 1910). Diesen bekam der Pfarrer sogar noch zu Lebzeiten verliehen. Pfarrer Abel Becker hat nicht nur die Chronik des Kirchspiels zu Netra verfasst – ihm verdanken die Netraer auch die gerechte Aufteilung des Domänenlandes im Jahr 1904.
- 3. Zwei Glocken läuten in der Kirche zu Netra. Eine davon kam über Umwege aus Ostpreußen in den Ringgau: Weil die eigene Glocke im Verlauf des Zweiten Weltkriegs erst eingezogen und dann eingeschmolzen wurde, hatte Netra nach Kriegsende Anspruch auf eine „Ersatzglocke“. Diese stammt vom sogenannten Hamburger Glockenfriedhof; ein Platz, auf dem Glocken aus ganz Deutschland gesammelt wurden. Die zweite Glocke wurde von den Bürgern Netras gestiftet.Selbst gestaltet: Ein Konfirmandenjahrgang stiftete diese holzgeschnitzte Bibel.
- 4. Etwas, das bleibt: Diverse Netraer Konfirmandenjahrgänge bleiben durch kleine (und größere) Gaben an ihre Kirche in Erinnerung. So liegt beispielsweise eine holzgeschnitzte Bibel mit Aussparungen für Kerzen aus; die Fensterbänke zieren liebevoll selbst gefertigte Bänke, und den Taufstein schützt eine blütenweiße Decke mit den eingestickten Namen der Konfirmanden. Der Taufstein hat seinen würdigen Platz im Übrigen nicht immer im Inneren der Kirche gehabt: Vormals wurde er als Blumenkübel zweckentfremdet.
Rarität: Evangelische Kirche mit Reliquienbüsten
Alles andere als gewöhnlich: Die evangelische Kirche zu Netra beherbergt zwei Reliquienbüsten.

Die Seltenheiten sind seit dem vergangenen Jahr wieder im Altarraum zu bestaunen – zuvor verbrachten sie gut ein Jahrzehnt als Leihgabe an ein Mühlhäuser Museum. „Als St. Jakobuskirche“, vermutet Pfarrerin Andrea Kaiser, seien in den Netraer Büsten einst wohl Reliquien des Apostels Jakob aufbewahrt worden.