„Selbst eine zwangsweise Vorführung im türkischen Generalkonsulat im April 2011 war erfolglos, sodass die Kinder bis zum heutigen Tag nicht über Pässe verfügen. Dadurch haben die Erziehungsberechtigten ihre Kinder in die Illegalität getrieben“, so ein Sprecher des RP.
Laut der Behörde wurde der Familienvater bereits 1996 schon einmal in die Türkei abgeschoben, reiste aber kurze Zeit später wieder nach Deutschland ein. „Er gab an, in der Türkei gefoltert worden zu sein“, so das RP. Ein ärztliches Gutachten habe dies jedoch widerlegt und sei zu dem Schluss gekommen, dass er sich selbst verletzt habe.
Zwischen 1999 und Ende 2008 habe er „diverse Ausreiseforderungen mit Abschiebungsandrohung“ erhalten, darauf aber nicht reagiert. Wie das Regierungspräsidium mitteilt, habe Akyüz außerdem eine Mitarbeiterin der Ausländerbehörde mit dem Leben bedroht. Zahlreiche verbale Entgleisungen und Drohungen gegen Mitarbeiter seien amtlich dokumentiert. „Hinzu kommt, dass er mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten ist und auch verurteilt wurde“, so ein Sprecher. Dazu zählten Betrug, Nötigung und Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten.
Die Familie Akyüz hält sich nach unseren Informationen bei Bekannten in Istanbul auf. Gegenüber unserer Zeitung sagte sie, dass die Kinder kein Türkisch sprechen könnten. Auch das bezweifelt das RP: „Die Eltern haben keinerlei Anstrengungen einer Integration unternommen. Die Mutter spricht bis heute wenig Deutsch, weshalb ein Dolmetscher bei der Abschiebung hinzugezogen wurde.“ Deswegen sei diese Darstellung laut RP „nicht glaubhaft“.
Eine Petition gegen die Abschiebung, die über 8000 Menschen unterzeichnet haben, ist seit Dienstag (22.12.2020) geschlossen. „Im Angesicht der jüngsten Ereignisse haben wir beschlossen, die Petition bis auf Weiteres zu deaktivieren“, heißt es dort. Mahmut Akyüz will derweil um seine Rückkehr kämpfen. In türkischen Medien hatte er sich jüngst direkt an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gewendet.
Erstmeldung vom Montag, 14.12.2020, 18.31 Uhr: Sontra/Istanbul – In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember wurde die siebenköpfige Familie Akyüz aus Sontra in die Türkei abgeschoben – Familienvater Mahmut Akyüz lebte mehr als 30 Jahre in Sontra, die Kinder sind in der Region geboren und aufgewachsen.
Die Abschiebung sei für die Familie plötzlich gekommen und nicht nachvollziehbar, wie sie unserer Zeitung mitteilte. Katrin Walmanns, Sprecherin des Regierungspräsidiums (RP) Kassel, begründet die Abschiebung so: „Alle Familienmitglieder sind seit Langem vollziehbar ausreisepflichtig. Die Frist zur freiwilligen Ausreise ist ungenutzt verstrichen. Daraufhin wurde die Ausreise zwangsweise durchgeführt.“ Die Familie sei seit Längerem darüber informiert gewesen. Wann diese Frist ausgelaufen sein soll, könne das RP aus Datenschutzgründen nicht sagen.
Mahmut Akyüz wendet ein, die Duldung seiner Familie sei nicht abgelaufen gewesen. Auch sei die Familie weder über die genannten Fristen noch über die Abschiebung informiert worden. Briefe mit diesen Informationen hätten sie erst am Flughafen erhalten. Laut Kreissprecher Jörg Klinge würden diese Briefe erst während des Abschiebungsprozesses ausgehändigt.
Um ihr Antreffen sicherzustellen, habe die Polizei Haus- und Wohnungstür in Sontra aufgebrochen, erklärt Alexander Först, Sprecher der Polizeidirektion Werra-Meißner. Der „Zugriff“ in der Nacht hängt nach Walmanns von der Zeit des Abflugs ab. „Man hat uns behandelt wie Terroristen“, sagt Mahmut Akyüz, der das Vorgehen der Polizei als brutal beschreibt. Denn die Familie berichtet darüber hinaus, dass Mahmut Akyüz gefesselt worden sei, ebenso wie sein 18-jähriger Sohn Bilal im Auto mit Kabelbindern und am Frankfurter Flughafen auch die Mutter Fatma – sogar mit Fußfesseln.
Laut Först seien bei Mahmut Akyüz aus „Eigensicherheitsgründen“ Handfesseln nötig gewesen, weil „sein weiteres Verhalten aufgrund seines emotional sehr aufgewühlten Zustands schwer einzuschätzen war“. Kabelbinder seien von der Polizeidirektion zu keiner Zeit verwendet worden, heißt es. Ebenfalls aus Sicherheitsgründen seien die Fußfesseln zum Einsatz gekommen, „als Hilfsmittel des unmittelbaren Zwanges“, sagt Michael Kraft von der Bundespolizeidirektion Flughafen Frankfurt am Main auf Nachfrage.
Die siebenköpfige Familie aus Sontra ist nun in Istanbul bei einem Bekannten untergekommen. Angehörige in Deutschland haben einen Anwalt eingeschaltet.
Die Polizei hat bei Abschiebungen die Aufgabe der Vollzugshilfe im Auftrag des Regierungspräsidiums (RP), erklärt Alexander Först von der Polizeidirektion Werra-Meißner. Wie das RP Kassel erklärt, würden Betroffene zu Beginn über die Abschiebung aufgeklärt und würden aufgefordert, das Nötigste zusammenzupacken. Dann geht es zum Flughafen, wo sie der Bundespolizei übergeben werden. Bei sicherheitsbegleiteten Flügen begleitet diese Betroffene auch im Flugzeug.
„Was wird jetzt aus uns?“ Die 15 Jahre alte Sahra Akyüz aus Sontra versteht die Welt nicht mehr. Als die siebenköpfige Familie Akyüz in der Nacht von Freitag, 4. Dezember, nach Istanbul abgeschoben wurde, hat sich alles schlagartig verändert. 30 Jahre hat Familienvater Mahmut in Sontra gelebt, Sahra Akyüz und ihre vier Brüder sind in der Region geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen.
Als sie beim Videochat mit unserer Zeitung das Erlebte noch einmal Revue passieren lassen, ist die Stimmung emotional aufgeladen – mit Traurigkeit, Hilflosigkeit und auch Wut. „Wir sind alle traumatisiert“, sagt Mahmut Akyüz über die Abschiebung. Er ringt mit den Worten.
In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember hätte die Familie ein lautes Poltern im Haus bemerkt. Dann hätten zahlreiche Polizisten im Wohnbereich gestanden. „Wir haben alle geschlafen und plötzlich kamen mehrere Polizisten in unser Zimmer. Das war sehr schlimm. Wir wussen gar nicht, was wir machen sollen, es waren so viele Polizisten da“, beschreibt der 13 Jahre alte Mohamed Akyüz.
Die haben die ganze Zeit ihre Hand an der Waffe gehalten.
„Die haben die ganze Zeit ihre Hand an der Waffe gehalten“, sagt der Schüler, der mit seiner Schwester Sahra das Gymnasium der Adam-von-Trott-Schule Sontra besucht. „Ich hab so sehr gezittert, ich konnte mich kaum bewegen und kaum atmen“, sagt die 15-Jährige über die Nacht der Abschiebung.
Sie beschreiben das weitere Vorgehen als hektisch, die Methoden als rabiat. „Ich durfte nichts mitnehmen. Wir durften niemandem Bescheid sagen und niemanden anrufen“, sagt Familienvater Mahmut Akyüz. Die Beamten hätten ihn in der Wohnung gefesselt. Ein Polizist habe sich dafür mit seinem Knie auf Akyüz’ Bauch gestützt, weitere hätten ihm Handfesseln angelegt. Er habe noch immer Druckgefühle und Schmerzen davon. „Ich war in der Nacht wirklich überzeugt, die wollen uns was antun. Das war keine normale Abschiebung.“
Die Familie aus Sontra sei dann in separaten Fahrzeugen zum Frankfurter Flughafen gebracht worden. Im Auto sei dann auch der 18-jährige Bilal mit Kabelbindern gefesselt worden, erzählt er. Die Polizei habe seiner Mutter in Frankfurt zudem Fußfesseln angelegt. Diese drastischen Maßnahmen sind für die Familie überhaupt nicht nachvollziehbar. Darüber hinaus hätte sich die Familie am Flughafen nackt ausziehen müssen. „Ich habe mich geweigert. Da haben die Polizisten mich einfach ausgezogen“, sagt Mahmut Akyüz. Sämtliche Körperöffnungen seien kontrolliert worden, berichtet der 19-jährige Ferdi Akyüz und beschreibt das Erlebnis als menschenunwürdig.
Am Flughafen habe die Familie dann Briefe mit den Informationen zur Abschiebung in die Hand gedrückt bekommen. Die Familie ist jetzt bei Bekannten in Istanbul untergekommen. In einer Zwei-Zimmer-Wohnung leben sie mit neun Personen. Außerdem sprechen die Kinder kein Türkisch, sagen sie. „Ich habe keinen Abschluss, ich beherrsche die Sprache hier nicht. Ich fange jetzt von vorne an“, sagt Sahra Akyüz.
Verpflegung bekommt die Familie aus Sontra gebracht, Geld borgen die Angehörigen. Weil Mahmut Akyüz vor einigen Jahren, als er bereits in Deutschland gelebt hat, den türkischen Militärdienst verweigert hat, befürchtet er zudem Konsequenzen und traut deshalb sich nicht aus der Wohnung in Istanbul. Die Angehörigen in Deutschland haben nun einen Anwalt eingeschaltet und eine Petition gestartet, um Unterschriften für die Rückkehr der Familie zu sammeln. „Wir versuchen alles, um meinen Onkel und seine Familie wieder nach Deutschland zu holen“, sagt Tarik Akyüz entschlossen.
Familie Akyüz und ihre Angehörigen können das Erlebte nicht fassen. Wie Mahmut berichtet, habe er in den vergangenen 30 Jahren immer wieder nur Duldungen für nur zwei Monate erhalten. Anträge auf eine richtige Aufenthaltsgenehmigung und deutsche Pässe für sich und seine Familie seien stets abgelehnt worden. Seine Duldung sei nun, zum Zeitpunkt seiner Abschiebung, nicht abgelaufen gewesen, ist er sich sicher. Deshalb kann er das nicht nachvollziehen.
Im Gegensatz zu den Erlebnissen, die die Familie aus Sontra beschreibt, schildert Sprecher Alexander Först von der Polizeidirektion Werra-Meißner einen weniger hektischen Vorgang. Er sagt, die Polizei habe die Familie im Wohnbereich ausführlich und mit schriftlicher Begründung über die Abschiebung und alle weiteren Maßnahmen aufgeklärt. Danach sei den Familienmitgliedern ausreichend Gelegenheit gegeben worden, die Informationen emotional zu verarbeiten, persönliche Dinge zu regeln und ihre persönlichen Sachen zu packen.
Polizeisprecher Först betont, die Beamten handelten auf Aufforderung des Regierungspräsidiums. Nach seinem Kenntnisstand sei die Familie aus Sontra seit mehreren Jahren vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Sowohl die Polizeidirektion Werra-Meißner als auch der Sprecher der Bundespolizei am Flughafen Frankfurt rechtfertigen das Fesseln einzelner Personen mit Sicherheitsgründen. Das sei auch der Grund für die polizeiliche Durchsuchung der nackten Familienmitglieder am Flughafen, sagt Bundespolizeisprecher Michael Kraft. Diese Durchsuchungen finden bei Flügen, bei denen Polizisten die Betroffenen begleiten, immer statt.
Wie Familie Akyüz mitteilt, habe sie in der Nacht der Abschiebung Briefe erhalten, in denen sie informiert wurde. Diese Briefe hat der Werra-Meißner-Kreis auf Anforderung des Regierungspräsidiums schon am 16. Oktober erstellt, denn nach seinen Informationen sollte die Familie bereits am 23. Oktober abgeschoben werden, erklärt Kreissprecher Jörg Klinge auf Nachfrage. Diese Briefe würden dabei oft während der Abschiebung überreicht. Das gehöre nicht zum üblichen Ablauf, sagt Walmanns vom Regierungspräsidium, aber es kann in ausnahmsweise sein, dass so Informationen übermittelt werden. (Jessica Sippel)
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