100 Tage ohne Whats-App: ein Erfahrungsbericht

Ein Foto im Familien-Chat, eine dringende Erinnerung der Kollegin und Urlaubsfotos von Freunden: Über Whats-App ist man rund um die Uhr erreichbar. Unser Redakteur Tobias Stück hat 100 Tage auf den Messenger verzichtet und zieht nun sein Fazit.
Eschwege – Der Nachrichtendienst Whats-App hat seit 2009 eine beispiellose Erfolgsgeschichte geschrieben. Teilweise hatten mehr als 80 Prozent der Deutschen diesen Kurznachrichtendienst auf ihrem Smartphone installiert. Das digitale Leben schien so unkompliziert. Doch das kostenlose Angebot von Mark Zuckerberg ist natürlich nicht selbstlos. In die Kritik gerät der Dienst, weil er sorglos mit Daten umgeht und die Nutzer auspresst wie eine Zitrone, um an Informationen zu gelangen. Zeit, sich Gedanken über einen Umstieg zu machen. Aber: Kann man als moderner Mensch überhaupt noch ein Leben ohne Whats-App führen? Ein Erfahrungsbericht nach 100 Tagen ohne.
Die Beweggründe
Dass man von Whats-App, das seit 2014 zum Zuckerberg-Unternehmen Meta gehört, gelesen wird wie ein offenes Buch, ist vermutlich jedem Nutzer klar. Whats-App sammelt generell alle Daten, die von den Nutzern selbst angegeben werden: Namen, Geburtstag, Telefonnummer, Status und Profilbild. Der Dienst liest zudem alle Kontakte aus dem Adressbuch aus und speichert sie, um sie regelmäßig abzugleichen. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen erlauben dem Unternehmen, Metadaten der Nutzer zu kommerziellen Zwecken zu verwenden. Offiziell bekräftigt Whats-App, es werde keine erweiterte Datenweitergabe an Facebook erfolgen.
Seit 2011 gibt es immer wieder Hinweise auf massive Sicherheitslücken. Außenstehende können auf die Daten zugreifen. Die Stiftung Warentest stuft den Dienst im Bereich Datenschutz mehrfach als „sehr kritisch“ ein.
Die Alternativen
Es geht auch ohne Whats-App. Ein vergleichbarer Anbieter ist Signal. Er besitzt vergleichbare Funktionen wie Whats-App. Was nicht angeboten wird, ist die Status-Funktion. Signal gehört laut Verbraucherschutzzentrale aktuell zu den sichersten Messengern für iOS und Android. Stiftung Warentest stuft ihn im März 2022 unter allen Messengerdiensten mit der Bestnote 2,3 als Testsieger ein. Mit der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung (auch bei WA) sind Daten nach heutigen Standards sehr sicher. Die App ist kostenlos. Die Entwicklung wird durch Spenden finanziert.
Kostenpflichtig (3,99 Euro) ist die App von Threema. Die Server von Threema sitzen zudem in der Schweiz. Sie unterliegen dem strengen europäischen Datenschutzgesetz. Für die Nutzung von Threema ist keine Registrierung oder Verlinkung der Telefonnummer oder E-Mail-Adresse erforderlich. So kann Threema auch völlig anonym genutzt werden.
Die Vorbereitung
Viele Familien nutzen es, genauso Firmen, Sportvereine, Schulen und und und. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass viele Nutzer Whats-App gar nicht komplett verlassen können, weil sie irgendwo doch noch in einer oder meist mehreren Gruppen festhängen. Wie gelingt also der Ausstieg?
Nur durch konsequentes Handeln. Der Ausstieg zu einem festgelegten Datum sollte rechtzeitig allen Kontakten bekannt gegeben werden. Ironischerweise passiert das am einfachsten über Whats-App selbst. Mehrere Status-Meldungen oder eine Nachricht an alle helfen dabei. Gleichzeitig sollte man mitteilen, wie man zukünftig erreichbar ist und wichtige Kontakten bitten, ob sie vielleicht mitwechseln können.
Die Reaktionen
Aufmerksame Status-Gucker registrieren die Ankündigung schnell und reagieren umgehend. Freunde und Kollegen fragen nach den Gründen, weil sich die meisten ein Leben ohne Whats-App nicht vorstellen können. Schnell wird man auch in eine Verschwörungstheoretiker-Ecke gedrängt. Ob man wegen dem Wendler zu Telegram wechsele, gehört noch zu den humorvollen Fragen. Wenn man Glück hat, schafft man es, Familie, Freunde, Arbeitskollegen oder Vereinskameraden zum Wechsel auf die neue Plattform zu bewegen.
Die ersten Tage
Sind hart. In der Silvesternacht habe ich Whats-App verlassen. Mit einem Mal steht das Soziale-Medien-Leben still. Facebook habe ich vor Jahren schon den Rücken gekehrt, Instagram niemals genutzt. Kamen bei Whats-App in rund 120 Chats und Gruppen täglich Dutzende Nachrichten an, sind es jetzt nur vereinzelte. Man baut sich ein neues digitales Leben auf. Beim neuen Anbieter Signal bin ich in vier Gruppen, bei Threema nur in einer Familiengruppe. Gewohnheitsmäßig schaut man in den ersten Tagen, ob neue Nachrichten eingegangen sind. Sind sie nicht. Nach vier, fünf Tagen gewöhnt man sich an den neuen Rhythmus. Das Gefühl, etwas zu verpassen, schwindet allmählich.
Das Fazit
Mit Whats-App zu arbeiten hat das Leben einfacher gemacht, weil man auf schnelle Art und Weise einen Großteil seiner sozialen Kontakte erreicht. Der Ausstieg kann allerdings nur gelingen, wenn man Unterstützung hat. Zwingen kann man niemanden die Plattform zu wechseln, weil es einen gibt, der gegen den Strom schwimmen möchte.
Das Umfeld im realen Leben muss den Aussteiger unterstützen. Der Partner erklärt, was in der Elterngruppe in der Schule und im Sportverein los ist, der Vereinskollege informiert, was im Club passiert und der Kumpel berichtet, wie in der Stammtischgruppe gelästert wurde. Eines muss man sich bewusst machen: So lange nicht genügend digitale Kontakte mitziehen, wird man zum Außenseiter.
Umgekehrt merkt man, welchen Kontakten man wirklich wichtig ist. Wer Interesse an einem hat, nutzt den neuen Messengerdienst, schreibt eine SMS oder greift – ganz verrückt – zum Telefonhörer und ruft persönlich an. Das intensiviert alte Freund- und Bekanntschaften.
Weiterer Vorteil
Man verplempert keine unnötige Zeit beim Stalken von Statusbildern und Schreiben von Quatsch-Nachrichten. Meine Bildschirmzeit hat sich um zwei Stunden jeden Tag reduziert. Und auch die unverschämten Nachrichten, die um 21.30 Uhr noch mal den Puls in die Höhe schießen lassen, werden deutlich weniger.
Keiner greift abends zum Telefonhörer, um seinem Frust noch mal Luft zu machen. Alles in allem: Die Lebensqualität steigt, man gewinnt Lebenszeit. Man muss es nur wollen.