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Gewaltsame Proteste in Witzenhausen: Syrer hätte nicht abgeschoben werden dürfen

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Von: Friederike Steensen, Maximilian Beer, Philipp David Pries

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Witzenhausen. Bei gewaltsamen Protesten gegen die Abschiebung eines Syrers sind in der Nacht zu Montag zahlreiche Menschen verletzt worden. Nun stellte sich heraus: Die Abschiebung hätte gar nicht stattfinden dürfen. Mittlerweile ist der gut integrierte Syrer wieder auf freiem Fuß.

Zuletzt aktualisiert um 15.30 Uhr. Es war ein Polizeieinsatz bei einer Abschiebung, wie ihn unsere Region selten erlebt hat. Bei der Abschiebe-Aktion hatte die Polizei zunächst einen 27-jährigen syrischen Staatsangehörigen aus Witzenhausen in ihre Obhut genommen. Der Syrer sollte gegen 1 Uhr im Auftrag des Regierungspräsidiums Kassel in sein EU-Erst-Einreiseland Bulgarien gebracht und deswegen mit einem Streifenwagen abgeholt werden. 

Dann kam es jedoch aus einer Gruppe von Anwohnern auf der Straße zu spontanen Protesten, berichtet die Polizei. Die Personen hätten sich aggressiv verhalten, dann seien die beiden Streifenwagen der Polizei von einer immer größer werdenden Menge umzingelt worden und in der Ermschwerder Straße nahe dem Stadtkern am Wegfahren gehindert worden. 

Mehrere Leser und Anwohner haben sich dagegen mit einer anderen Version der Ereignisse an die HNA gewandt: Sie berichten, dass die Proteste friedlich gewesen seien und die Gewalt von den Polizisten ausgegangen sei. "Die Demonstrierenden waren lautstark und haben mit ihren Sprechchören "Kein Mensch ist illegal" auf sich aufmerksam gemacht, aber nicht mit irgendeiner Form von Gewalt", schreiben Teilnehmer der Solidaritätskundgebung. "Ich beobachtete auch, dass Polizisten ohne Vorwarnung Menschen ins Gesicht schlugen "um ihnen die Trillerpfeifen wegzunehmen"", schreibt eine Anwohnerin.

Klar ist: Die Polizei forderte Verstärkung aus den umliegenden Kreisen an und spricht von zu diesem Zeitpunkt 60 Protestierenden. Als weitere Streifenwagen den Einsatzort erreichten, seien sie mit Steinen beworfen worden - die Demonstranten bestreiten das. Eine Person kettete sich laut Polizei an einen blockierten Funkwagen. 

Die Polizei setzte Pfefferspray und den Schlagstock ein, nach Angaben von mehreren Unterstützern des Syrers war auch ein Polizeihund vor Ort, der Demonstranten angesprungen haben soll. Die Unterstützer kritisieren eine "massive Gewaltanwendung" der Polizei. 

Abschiebung: Syrer in Witzenhausen wieder frei

Schließlich konnten die betroffenen Streifenwagen den Einsatzort verlassen. Die Demonstration löste sich kurz darauf gegen 3 Uhr auf, so die Polizei. 

Bei den Protesten wurden laut der Polizei mehrere  Beamte verletzt. Die Demonstranten zählten etwa 20 Personen mit Augenreizungen durch das Pfefferspray sowie Prellungen. Fünf Notärzte, 14 Krankenwagen und zwei Krankentransportwagen kümmerten sich laut Leitstelle um die Verletzten.  Am Streifenwagen entstanden Dellen und Kratzer.  

Gegen 10 Uhr erfuhr die HNA aus Unterstützer-Kreisen des Syrers, dass er mittlerweile wieder auf freiem Fuß ist. Die Polizei wollte das ohne Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft nicht kommentieren. Man habe nur Vollzugshilfe für das RP Kassel geleistet, sagt Polizeisprecher Jörg Künstler. Die Anwältin des Syrers, Claire Deery, bestätigte gegen Mittag auf Anfrage der HNA, dass sie die Abschiebung stoppen konnte. Der Syrer hätte eigentlich um 8.30 Uhr vom Flughafen Frankfurt aus mit dem Flugzeug nach Bulgarien gebracht werden sollen, weil er dort bereits als Flüchtling anerkannt wurde. Bereits vor einem Jahr hatte allerdings das Verwaltungsgericht Kassel geurteilt, dass der Syrer nicht nach Bulgarien abgeschoben werden darf. 

Syrer-Abschiebung: Unterstützer entsetzt

Der Grund: Das "Asylsystem in Bulgarien leidet insbesondere hinsichtlich bereits anerkannter Flüchtlinge an systemischen Mängeln", heißt es im Beschluss des Gerichts, der der HNA vorliegt. Dieser Gerichtsbeschluss sei allerdings offenbar vom Bundesamt für Migration (BAMF) nicht in die Akte des Mannes eingetragen worden, sagt Deery: "Vermutlich hat jemand ein falsches Kreuzchen gesetzt." Mit fatalen Auswirkungen - denn so ordnete das Regierungspräsidium Kassel im Auftrag des BAMF die Abschiebung an. Erst nach Deerys Intervention habe man die Anordnung zurückgezogen. 

Das BAMF will sich aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht zu dem Fall von Bangin H. äußern. Die Pressestelle weist ganz allgemein darauf hin, dass die Betroffenen erst nach einer rechtskräftigen Entscheidung in den jeweiligen EU-Mitgliedsstaat überstellt werden könnten.

Die Kundgebung zur Abschiebung in Witzenhausen am frühen Montagnachmittag.
Die Kundgebung zur Abschiebung in Witzenhausen am frühen Montagnachmittag. © Steensen

Die Unterstützer des Syrers sind entsetzt angesichts des nächtlichen Einsatzes. Der 27-Jährige, der 2015 zunächst in Unterrieden und später in eine WG nach Witzenhausen zog, gilt als besonders gut integriert. Er lernte schnell Deutsch, trieb Sport in den heimischen Sportvereinen, fand einen Job und wurde im Januar 2018 in die Witzenhäuser Feuerwehr aufgenommen. Ihm sei in Deutschland viel Gutes wiederfahren und er wolle nun etwas zurückgeben, beschreibt Wehrführer Claus Demandt die Motivation des Flüchtlings. Er sei sehr zuverlässig, bestrebt sich einzubringen und unternehme auch privat viel mit den Feuerwehrleuten.

Gewaltsame Proteste sind selten

Proteste gegen Abschiebungen gibt es in der Region immer wieder. Allerdings sind gewaltsame Auseinandersetzungen wie jetzt in Witzenhausen äußerst selten. Eine friedliche Demonstration gab es beispielsweise im vergangenen Jahr in Göttingen, nachdem eine junge Frau aus Eritrea abgeschoben werden sollte. Und in Witzenhausen protestierten vor einigen Jahren 800 Menschen gegen die Abschiebung eines ausländischen Mitbürgers - allerdings ebenfalls friedlich

Überregional kommt es jedoch gelegentlich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Bundesweit Aufmerksamkeit erregte die geplante Abschiebung eines afghanischen Berufsschülers in Nürnberg. Dabei wurden neun Polizisten verletzt, drei Demonstranten wurden festgenommen.

Die Lage hat sich im Werra-Meißner-Kreis fünf Jahre nach der Flüchtlingskrise so weit entspannt, dass die Kreisverwaltung angemietete Häuser wieder abgeben kann.

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