„Wirtschaftsförderung 4.0“: Witzenhausen will neue Wege gehen

Das Projekt „Wirtschaftsförderung 4.0“ in Witzenhausen nimmt Formen an. Hinter dem sperrigen Titel verbirgt sich das Ziel, das Stadt und Wirtschaft enger zusammenarbeiten.
Witzenhausen – Das Projekt „Wirtschaftsförderung 4.0“ soll dafür sorgen, dass Firmen eng zusammenarbeiten, auf Nachhaltigkeit setzen und dafür sorgen, dass die hier erwirtschafteten Gewinne auch wieder in die Region zurückfließen. „Gerade die Corona-Krise zeigt, wie wichtig Selbstversorgung auf lokaler Ebene ist“, sagt Christoph Schösser. Er betreut im Bauamt das Projekt und will vor allem den Gewerbetreibenden helfen, ein starkes, krisensicheres Netz zu bilden. Dazu will er Menschen ins Gespräch bringen, Kontakte vermitteln und Betroffene beraten – sei es über Hilfe bei der Suche nach geeigneten Räumen oder Flächen, Fördermitteln oder Experten.
Es habe schon einige Gespräche gegeben, sagt Schösser. Wegen der Pandemie aber nicht so viele wie erhofft. Stattdessen half er mit beim Aufbau des Internetportals „witzenhausen.shop“, das den örtlichen Einzelhändlern als digitales Schaufenster dienen und helfen soll, Produkte aus der Region besser zu vermarkten. Dazu gibt es für Händler seit dieser Woche Workshops. „Für deren Finanzierung sollte es eigentlich eine Crowdfunding-Aktion geben“, sagt Schösser. Sogar das Video für die Spendenaktion sei fertig gewesen – dann gewann die Stadt bei einem Landeswettbewerb 10 000 Euro. Jetzt ist Geld für Workshops da, zudem soll die Internetseite optisch und technisch überarbeitet werden. Zu den Workshops hätten sich 20 Teilnehmer angemeldet. „Das sind mehr, als wir erwartet hatten“, sagt Bürgermeister Daniel Herz.
Leerstandsvermittlung und Projekt für Handwerker
Eine weitere Aufgabe für Schösser sei das Erstellen einer Einzelhandelsstudie für die Altstadt, kündigt Herz an. Statt solche Aufträge komplett an externe Planungsbüros zu vergeben, soll Schösser die Ergebnisse früherer Projekte nutzen. „Es ist sinnvoll, auf die Erfahrung von Einheimischen zurückzugreifen“, so Herz. Dazu gehört auch die Kooperation mit Tourist-Info, Ökomodellregion und der neuen Stelle zur Sicherung des Kirschenanbaus.
Weitere Ideen seien die Vermittlung von Leerständen und Mietzuschüsse, damit Geschäftsideen leichter getestet werden können. Auch neue Wirtschaftsformen wie solidarische Landwirtschaft oder temporäre Läden und Cafés kann sich Schösser vorstellen, um die Altstadt neu zu beleben. Im Advent soll es ein Ladenlokal als „Galerie auf Zeit“ geben, wo professionell arbeitende (Kunst-) Handwerker ihre Produkte zeigen und verkaufen können.
Doch trauen sich die Witzenhäuser in der Pandemie, die viele kleine Firmen belastet, an neue Wege des Wirtschaftens? Die Folgen der Pandemie seien noch nicht abzusehen, sagen Schösser und Herz. Klar sei auch, die Wirtschaftsförderung 4.0 allein könne weder Patentrezepte für alle liefern, einzelne Firmen oder die Innenstadt retten. Man könne nur beratend zur Seite stehen, betont Schösser. Die Witzenhäuser müssten vor allem selbst aktiv werden. „Wir müssen als Stadt gemeinsam auftreten“, betont Herz.
Service
Kostenfreie Beratungen gibt es bei Christoph Schösser, Tel. 0 55 42/50 86 57, E-Mail: christoph.schoesser@witzenhausen.de
Für professionelle (Kunst-)Handwerker und Gestalter in den Bereichen Holz, Metall, Textil, Glas, Keramik und Papier gibt es am Mittwoch, 30. September, ab 19 Uhr im Stadtraum, Ermschwerder Str. 6 einen Info-Abend zu der genannten „Galerie auf Zeit“. Anmeldungen sind direkt bei Schösser möglich.
Vier Formen der Wirtschaftsförderung
In der Regionalplanung unterscheidet man vier Formen der Wirtschaftsförderung. Das erläutert Prof. Dr. Ulf Hahne (Universität Kassel), der auch die studentischen Projekte zur Witzenhäuser Altstadt betreut hat, in einem aktuellen Aufsatz. Er unterscheidet diese Phasen:
1.0, Klassische Regionalpolitik: Sie soll seit den 1960er Jahren vor allem für Industrieansiedlungen und die Gründung von Zweigstellen in Regionen abseits der Metropolen sorgen. Ein Beispiel ist die Zonenrandförderung.
2.0, Bestandsentwicklung: Ab den 1980er Jahren konzentrierte man sich darauf, Firmen vor Ort zu stärken, um durch Wachstum neue Jobs zu schaffen. Auch technologieorientierte Neugründungen wurden gefördert.
3.0, Cluster und kreative Städte: Technologie- und Gründerzentren sollen seit den 1990er Jahren dafür sorgen, dass heimische Unternehmen besser kooperieren und Erfahrungen austauschen. Das gezielte Werben von Städten um kreative Köpfe soll den Entwicklergeist stärken.
4.0, Nachhaltigkeit und Digitalisierung: Damit wird seit 2010 versucht, mithilfe der Digitalisierung örtliche Firmen zu stärken, Ressourcen nachhaltiger zu nutzen, für regionale Wertschöpfung zu sorgen und neue Wirtschaftsformen zu entwickeln, die dem Gemeinwohl nützen.
Wie gut die „Wirtschaftsförderung 4.0“ funktioniert, untersucht ein Forschungsteam des Wuppertal Institut am Beispiel dreier ganz unterschiedlicher Städte: Wuppertal (360.000 Einwohner), Witten (96.000) und Witzenhausen (15.000). Sie testen neue Ideen, dokumentieren ihre Arbeit, beantworten Umfragen und tauschen sich untereinander aus, sagt Christoph Schösser. Dessen Stelle wird dafür vom Bundesforschungsministerium für zwei Jahre bezahlt. Der Stadt entstehen keine Kosten. (Friederike Steensen)