Da lebte ich mit meiner Familie in Kiew. Ich arbeitete als Chefredakteurin eines Internetportals und als Steuerberaterin. Als Hobby hatte ich einen Online-Shop, in dem ich Kinderartikel verkaufte. Mein Mann arbeitete als Rechtsberater.
In seiner Freizeit erforschte er geschichtliche Themen. Wir haben beide gerne und viel geschrieben. Ich habe zu rechtlichen, steuerlichen und buchhalterischen Themen geschrieben, mein Mann über die Geschichte der Ukraine und anderer europäischer Länder. Gemeinsam haben wir unsere drei Kinder – eine Tochter und zwei Söhne – großgezogen. Mein älterer Sohn studierte und studiert derzeit an der Kiewer Polytechnischen Universität.
Wie haben Sie den Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erlebt?
An diesem Tag wachten wir am Morgen um 4 Uhr durch einen Anruf von Freunden auf. Einer sagte: „Wach auf. Russland hat einen Krieg mit uns begonnen. Kiew wird angegriffen. Hol’ die Kinder so schnell wie möglich aus der Hauptstadt.“ Ich hatte große Angst, aber wir hatten noch keine Explosionen gehört. Ich weckte unsere Kinder schnell auf und mein Mann packte das Nötigste für die Reise.
Meine jüngeren Kinder waren verängstigt und weinten. Sie verstanden nicht, was geschah. Mein Mann und mein ältester Sohn weigerten sich zu gehen. Mein Mann sagte: „Wir müssen die Russen aufhalten. Ich werde in Kiew bleiben.“ Ich verließ Kiew mit den jüngeren Kindern.
Wie lief die Flucht ab?
Als wir von unserem Haus wegfuhren, hörten wir eine Sirene. Wir sahen Militärflugzeuge am Himmel. Die Kinder weinten und schrien vor Angst. Wir fuhren in den Westen der Ukraine. Ich hatte nicht vor, ins Ausland zu gehen.
Ich hoffte, dass sich in ein paar Tagen alles ändern würde. Wir sind mehr als zwei Tage in die Westukraine gefahren, ohne anzuhalten oder zu schlafen. Wir mussten mehrmals die Route ändern, denn die Russen haben nicht nur Kiew bombardiert.
Wir fuhren in die Stadt Mukatschewo zu den Schwiegereltern. Das ist circa 40 Kilometer von der Grenze zur Slowakei und Ungarn entfernt. Dort wurde ich sofort als Person registriert, die aufgrund des Krieges gezwungen war, ihren Wohnort zu verlassen. Dann rief mich mein Mann an. Er sagt, er habe zu den Waffen gegriffen, um unser Vaterland zu verteidigen.
Wie sind Sie nach Deutschland gekommen?
Am 1. März rief mich eine Frau vom Rathaus an. Sie sagte, wir könnten vorübergehend nach Deutschland gehen. Am 1. März hat mein jüngster Sohn Geburtstag. Das Schicksal schenkte uns an diesem Tag eine Reise nach Deutschland. Dennoch war ich sehr besorgt. Ich konnte kein Deutsch und wusste nicht, in welche Stadt wir fuhren. Doch ich ging, um das Leben meiner Kinder zu retten. 16 Ukrainer fuhren an diesem Tag nach Wolfhagen. Wir überquerten die ukrainische Grenze und kamen nach Ungarn. Dort warteten die Deutschen auf uns. Meine Kinder und ich fuhren zusammen mit Oliver Ulloth, dem hessischen SPD-Landtagsabgeordneten. Die Kinder erhielten während der Fahrt Spielzeug, Saft und Kekse.
Wie ging es in Wolfhagen weiter?
Wir sind hier sehr gut aufgenommen worden. Meinem Sohn Bohdan sangen die Leute zu seinem Geburtstag ein Lied. In Wolfhagen besuchten wir das Elternhaus von Katja Röhre, die uns bei sich in ihrem Haus aufgenommen hat.
Die Eltern, Gerlinde und Gerd, trafen uns dort. Sie wussten, dass Bohdan Geburtstag hatte und schenkten ihm einen singenden Spielzeugkuchen und ein weißes Schaf als Kuscheltier. Es war der erste Geburtstag im Leben unserer Kinder, den wir nicht als ganze Familie gefeiert haben.
Wie geht es Ihnen heute?
Das Leben in Deutschland ist natürlich anders. Ich kann nicht sagen, dass es besser oder schlechter ist als in der Ukraine. Es ist einfach anders. Deutsche haben eine etwas andere Mentalität als Ukrainer.
Ich bin den Deutschen sehr dankbar für den herzlichen Empfang nicht nur meiner Familie, sondern aller Ukrainer. Ich danke ihrer Regierung dafür, dass sie der Ukraine und den Ukrainern hilft.
Wie sieht Ihr Alltag aus?
Am Anfang war es wegen der Sprachbarriere sehr schwierig. Mein jüngerer Sohn geht seit September in den Kindergarten, meine Tochter lernt schon seit März an der Walter-Lübcke-Schule. Sie ist jetzt in der vierten Klasse, aber ein Jahr jünger als die anderen Schüler. Sie lernt gerne in einer deutschen Schule, nämlich in der Deutschklasse. Ihre Noten sind gut. Ich bin Frau Strobel, ihrer Lehrerin, sehr dankbar für die Hilfe. Meine Tochter mag Deutsch sehr. Sie liest zu Hause schon deutsche Bücher.
Und wie kommen Sie persönlich zurecht?
Leider habe ich selbst die deutsche Sprache nicht so schnell gemeistert. Ich lerne jetzt aber jeden Tag Deutsch in Integrationskursen. Ich hoffe, dass ich die Prüfung auf dem entsprechenden Niveau bestehen kann und auf einem höheren Niveau weiter Deutsch lernen kann. Ich habe gelernt, mit vielen Problemen alleine fertig zu werden.
In Kiew habe ich immer alles zusammen mit meinem Mann gemacht. Deshalb war es anfangs für mich in Deutschland sehr schwierig. Ich habe hier aber auch neue Freunde gefunden. Sie sind Ukrainer und Deutsche. Meine Nachbarin Cornelia Kerrer-Kanturek, Katja Röhre, Artur Schöneburg, Marianna Dobra, Heiko Weiershäuser und andere helfen mir sehr. Jeden Samstag gehen wir in die Kirche St. Anna. Mein Sohn und meine Tochter trainieren bei den Ringerwölfen am Landesstützpunkt Wolfhagen.
Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?
Ich mache vorerst noch keine weitsichtigen Pläne. Schließlich wissen weder ich noch die Mehrheit der Ukrainer, was uns in der Zukunft erwartet.
Aber ich weiß mit Sicherheit, dass wir Frieden in der Ukraine und in der ganzen Welt wollen. Ich lerne jetzt erstmal Deutsch, sodass ich in Deutschland in meinem Beruf arbeiten kann. Ich hoffe wirklich, dass der Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich endet.
Was meine Familie betrifft, so möchte ich, dass meine Familie wieder zusammenlebt. Und es ist mir egal, wo es sein wird. Das Schlimmste für mich wäre, meine Verwandten und nahen Menschen während des Krieges zu verlieren. Es ist sehr schmerzhaft, andere unschuldige Ukrainer sterben zu sehen.
(Paul Bröker)