„Frieden wollen alle“: Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse zum Ukrainekrieg

Kein Ende in Sicht: Das gilt für den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Wir sprachen über die aktuelle Lage und die Hintergründe des Konflikts mit Gwendolyn Sasse.
Göttingen - Sie ist zweifellos eine der gefragtesten Stimmen zum Ukrainekrieg: Die Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse, wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin. In Göttingen hat sie kürzlich ihr Buch „Der Krieg gegen die Ukraine“ (C.H.Beck 2022) vorgestellt, in dem es um die Hintergründe des Konflikts geht. Darüber und über die jetzige Lage sprachen wir mit ihr.
Frau Sasse, wie ist die aktuelle Lage in der Ukraine?
Leider zeichnet sich ein Ende des Krieges derzeit überhaupt nicht ab. Momentan gibt es einen Stellungskrieg im Osten des Landes, in der Nähe von Bachmut, der unter großen Verlusten auf beiden Seiten ausgefochten wird. Viel wird jetzt davon abhängen was in den nächsten Wochen und Monaten geschieht. Die ukrainischen Streitkräfte versuchen auszuharren. Sie sind dort fast eingekesselt. Sie versuchen, die Russen dort so zu binden, dass man sie schwächt. In den nächsten Wochen können sie mit westlicher Unterstützung, Waffen- und Munitionslieferungen versuchen, weitere Gebiete zurückzuerobern. Aber es ist momentan ein kritischer Punkt und die Lage an der Front ist aus ukrainischer Sicht verzweifelt.
Gerade hierzulande wird kontrovers über Waffenlieferungen diskutiert. Wie abhängig ist die Ukraine von diesen?
Ohne westliche Unterstützung, finanzielle aber vor allem militärische, wird die Ukraine den Angriff Russlands nicht widerstehen können und müsste sich auf einen von Russland diktierten Frieden einlassen. Das sind einfach die Tatsachen. Es ist momentan schon so, dass das, was aus dem Westen geliefert wird, für die Ukraine eigentlich zu langsam und zu spät kommt. Natürlich sind das schwerwiegende Entscheidungen aufseiten der westlichen Bündnispartner. Allerdings hätte man mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten an westlichen Waffensystemen viel früher beginnen können.
Was braucht die Ukraine?
Momentan werden Panzer geschickt, die ersten sind gerade angekommen. Polen und die Slowakei wollen Kampfjets schicken. Das muss aber noch diskutiert werden. Entscheidender ist momentan, ob die versprochenen Panzer wirklich geliefert werden. Außerdem wird Munition gebraucht. Davon wird für die Ukraine abhängen, ob sie nach der Rückeroberung weiterer Territorien in eine Lage kommt, wo sie dann selbst bestimmt entscheiden kann, ob und wie sie verhandeln will. Einen anderen Weg für Russland an den Verhandlungstisch kann ich mir derzeit nicht vorstellen.
Trotzdem kommt häufig die Forderung nach sofortigem Frieden auf. Was entgegnen sie dem?
Frieden wollen alle, auch die Ukrainerinnen und Ukrainer. Aber man muss die Situation realistisch einschätzen. Nur nach Frieden zu rufen, wird Russland und Putin nicht an den Verhandlungstisch bringen. Der Krieg zeigt, dass man umdenken muss für was die Friedensbewegung und für was Pazifismus steht. Den Frieden kann man sich nicht nur herbeiwünschen. Es braucht auch Unterstützung, damit man dahin kommt. Verhandlungen wird es nur dann geben, wenn für Russland die Kosten zu hoch werden.
Nichtsdestotrotz gibt es Kanäle zwischen dem Westen und Russland, die aber oft nicht die Aufmerksamkeit bekommen und falsch interpretiert werden können.
Wichtig ist, klarzustellen, dass Verhandlungen und Waffenlieferungen kein Gegensatz sind. So wird es leider häufig in der Öffentlichkeit und der Politik diskutiert. Die Realität ist, dass man beides braucht. Man muss in Kontakt bleiben. Das tun aber die USA, Deutschland und Frankreich. Das ist gerade dann wichtig, wenn etwas Unvorhergesehes passiert, wie zuletzt der Zusammenstoß einer US-Drohne mit einem russischen Kampfjet. Es ist aber auch wichtig, um den Moment nicht zu verpassen, falls sich im politischen Machtgefüge in Russland etwas verändert, auch wenn es derzeit keine Anzeichen dafür gibt. Außerdem können in Telefonaten rote Linien gegenüber Russland geäußert werden.
Gibt es diese roten Linien auch gegenüber der Ukraine oder könnten diese im Laufe des Krieges formuliert werden?
Möglich ist es. Gerade beim größten Unterstützer der Ukraine, den USA, ist unklar, ob die Hilfe politischer Konsens bleibt. Wir wissen also noch nicht, ob die Unterstützung innenpolitisch in Frage gestellt wird. Dann würde man andere Dinge an die Ukraine kommunizieren. Man hat aber bisher ja auch nicht alle Forderungen der Ukraine einfach akzeptiert. Das Risiko von Waffenlieferungen etwa musste vorher abgewogen werden. Eine rote Linie gab es gleich zu Beginn der großangelegten Invasion. Eine Flugverbotszone wurde abgelehnt, weil das den Abschuss russischer Kampfjets hätte bedeuten können.
Zur Person
Gwendolyn Sasse wurde 1972 in Glinde/Schleswig-Holstein geboren. Sie studierte Geschichte, Slawistik und Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und der London School of Economics. Dort wurde sie promoviert. 2007 ging sie nach Oxford, wo sie 2013 auf eine Professur berufen wurde. Seit 2016 ist sie die Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin. Außerdem ist sie seit 2021 Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
Wie bewerten sie die Unterstützung Deutschlands?
Es kommt drauf an, woran man sie misst. Historisch gesehen, hat sich im vergangenen Jahr sehr viel getan. Für ein Land wie die Ukraine, das gerade angegriffen wird, kommt das alles aber zu langsam. Die Wahrnehmung von Deutschlands Zurückhaltung hat auch viel mit Kommunikation zu tun. Die Unterstützung kam zögerlich rüber.
Sie haben nach Ausbruch des Krieges ein Buch zur Ukraine geschrieben. Wie aktuell ist es noch?
Das Buch ist nicht so verfasst, dass es die Schnelligkeit des Krieges abbilden soll. Das Buch versucht eher in großen Bahnen nachzuvollziehen: Wie konnte es so weit kommen? Wie erklärt sich der starke Widerstand der Ukraine? Beides hat viele überrascht. Da berufe ich mich auch auf meine Forschung und die Forschung anderer.
Wie kam der Krieg zustande?
Eines meiner Hauptargumente ist, dass es essenziell um zwei politische Ordnungen geht und weniger um die Nato-Osterweiterung: Dass das autoritäre System in Russland sich selbst erhalten muss und dazu auch der neoimperiale Anspruch nach außen gehört und dass sich die Ukraine seit Jahren in eine andere Richtung bewegt und an ihrer Demokratisierung arbeitet. Aber die Entscheidung für die Demokratie hat sie getroffen. Da steht die Gesellschaft dahinter. Das ist eine Gefahr für Putin, für das politische System Russlands.
Hat sich für Sie persönlich durch den Krieg die Arbeit sehr geändert?
Es hat sich alles massiv intensiviert. Als wissenschaftliche Direktorin eines Instituts, das sich mit Osteuropa beschäftigt, waren wir vorher auch mit der Forschung in der Öffentlichkeit, in den Medien und in Kontakt mit der Politik. Vor allem die öffentliche Präsenz und das Bedürfnis nach Information seit dem 24. Februar 2022 haben sich intensiviert. Ich versuche da etwas beizusteuern. Die Gesellschaften in der Ukraine und Russland besser zu erklären. Dafür gibt es jetzt mehr Räume. Ich verstehe meine Aufgabe eben als Wissenschaftlerin so, dass ich Zusammenhänge erkläre. Das ist mir wichtig. Natürlich ist es aber auch eine sehr atemlose Zeit. Man kennt viele Menschen in der Ukraine. Manche sind immer noch da, andere mussten fliehen. (Amir Selim)