Verschwendung auf 333 Seiten: Kritik an milliardenschwerem Covid-19-Sondervermögen
Das Land Niedersachsen soll Mittel zur Corona-Bekämpfung für andere Vorhaben verwenden. Der Landesrechnungshof wertet das Vorgehen als verfassungswidrig.
Hannover – Unter dem Deckmantel der Corona-Bekämpfung hat das Land Niedersachsen den Bau neuer Radwege, den Ausbau der Elektrolade-Infrastruktur für private Firmen und die energetische Sanierung von Hochschulgebäuden gefördert.
Die Mittel stammten aus dem weitgehend durch neue Kredite geschaffenen Covid-19-Sondervermögen in Höhe von insgesamt 7,7 Milliarden Euro. „Das sind sicher alles sinnvolle Vorhaben. Aber mit Gesundheitsschutz haben sie nichts zu tun“, kritisierte die Präsidentin des Landesrechnungshofes (LRH), Sandra von Klaeden, in Hannover. Eine solche Zweckentfremdung sei verfassungswidrig.
Landesrechnungshof kritisiert Verwendung des Landes Niedersachsen von Covid-19-Sondervermögen
Von Klaeden forderte die SPD/CDU-Landesregierung auf, bis zum Ende des Jahres pandemiefremde Projekte aus dem normalen Haushalt zu finanzieren. Insgesamt geht es um rund 900 Millionen Euro zweckentfremdete Mittel.

LRH-Vize Thomas Senftleben verwies darauf, dass die Staatsgerichtshöfe in Hessen und Rheinland-Pfalz die dortigen Landesregierungen bereits aufgrund ähnlicher Konstrukte wegen Verfassungsverstößen verdonnert hätten. „Eine Klage gibt es in Niedersachsen noch nicht, sie ist aber durchaus denkbar.“
Ebenfalls aus dem Sondervermögen hatte das Wirtschaftsministerium von Ressortchef Bernd Althusmann (CDU) das Programm „Neustart Niedersachsen Investition“ aufgelegt. „Davon profitierten auch Unternehmen, die in der Pandemie Umsatzzuwächse verzeichnen konnten“, bemängelte von Klaeden erhebliche Mitnahmeeffekte.
Niedersächsische Landesregierung soll 900 Millionen Euro zweckentfremdet haben
Das Ministerium habe sich nicht am echten Bedarf, sondern allein an der Nachfrage orientiert. So sei das Budget von ursprünglich 300 Millionen auf 800 Millionen Euro aufgestockt worden.

CDU-Fraktionsvize Ulf Thiele nahm Althusmann und Finanzminister Reinhold Hilbers in Schutz: Alle Maßnahmen seien vom Landtag und seinen Fachausschüssen bewilligt worden. „Dem Parlament war und ist dabei bewusst, dass für die effektive und schnelle Krisenbewältigung Fehler und Mitnahmeeffekte unvermeidbar waren“, meinte der Abgeordnete.
FDP-Finanzexperte Christian Grascha sprach dagegen von einer „schallenden Ohrfeige“ für die Landesregierung. Die Kritik der unabhängigen Prüfbehörde sei „mehr als gerechtfertigt“.
„Ziel verfehlt“: Digitalisierung von Verwaltung läuft nur schleppend
Der Rechnungshof rügte auch den schleppenden Fortschritt bei der Verwaltungsdigitalisierung. „Ziel verfehlt“, lautet die Überschrift über dem entsprechenden Kapitel im 333 Seiten dicken Jahresbericht.
Die Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes werde das Land kaum noch rechtzeitig bis Ende 2022 schaffen. Die Ministerien arbeiteten mit mindestens vier verschiedenen, untereinander nicht kompatiblem System für die elektronische Akte. (Peter Mlodoch)
Ineffektive Verwaltung und Fehlplanung: 38 konkrete Fälle werden vom Landesrechnungshof gerügt
Insgesamt 38 Fälle von Verschwendung, ineffektiver Verwaltung, Fehlplanung und mangelnder Durchsetzung von Ansprüchen zählt die Denkschrift auf.
Rechtsmedizin: Seit 20 ist eine Zusammenlegung der beiden rechtsmedizinischen Institute an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) im Gespräch. Doch passiert ist nichts; insbesondere die Göttinger wehren sich dagegen. Dabei lassen sich laut LRH die Dienstleistungen wie Obduktionen, Leichenschauen, Tatort-Untersuchungen oder Blutalkohol-Bestimmungen ohne Qualitäts- und Zeiteinbußen konzentrieren. Damit könne man die jährlichen Millionenverluste beider Institute vermeiden.
Marienburg: Vor einem Fass ohne Boden warnt der Rechnungshof bei der Sanierung des Welfenschlosses südlich von Hannover. Die 2014 geschätzten Kosten von 27,2 Millionen Euro, die sich Bund und Land hälftig teilen, seinen angesichts von Preisexplosionen längst Makulatur. Der Alteigentümer, Ernst August Prinz von Hannover, der die Marienburg für einen symbolischen Preis an eine Stiftung übertragen hat, beteiligt sich dagegen nicht. Nach den Richtlinien des Landes zur Denkmalpflege hätte der Adlige aber einen erklecklichen Eigenanteil beisteuern müssen. Seine frühere Zusage, einen Teil der Erlöse aus der Auktion von Kunstgegenständen 2005 dafür zu verwenden, habe der Prinz nicht eingehalten, kritisieren die Prüfer. Das Gesamtkonzept mit Pachtbetrieb und Museum weise diverse Schwachstellen auf, es drohe neuer finanzieller Ärger, befürchtet der LRH.
Maßregelvollzug: Über 100 verurteilte sucht- oder psychisch kranke Straffällige befinden sich auf freiem Fuß, weil die notwendigen Plätze in den Einrichtungen fehlen. „Das Land muss die Optionen zur Kapazitätserweiterung unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgrundsatzes zeitnah prüfen“, fordert der Rechnungshof. (ymp)