Interview mit Bildungs- und Familienexpertin Anette Stein
Durch das Rentensystem benachteiligt: „Eltern droht Armut im Alter“
Das deutsche Rentensystem ist familienfeindlich, ungerecht und nicht demografiefest. Das ist das alarmierende Ergebnis einer neuen Studie. Wir haben mit der Leiterin des Programms Wirksame Bildungsinvestitionen, Anette Stein, über das Thema gesprochen.
Anette Stein: Ja, der trügt. Familien mit Kindern spülen in die staatlichen Kassen ein Plus. Wenn man sich das Rentensystem anschaut, ist das pro Kind ein Plus von 77 000 Euro. Wenn man abzieht, was der Staat für die Förderung von Familie und Kindern ausgibt, bleibt immer noch ein Überschuss von über 50 000 Euro pro Kind für die Staatskassen übrig.
Stein: Wenn man es rein ökonomisch betrachtet ja. Natürlich sind die Gründe, warum Menschen Kinder bekommen, nicht finanzieller Natur. Dennoch sollte dieser Aspekt
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berücksichtigt werden. In Deutschland haben wir den Mythos eines familienfreundlichen Staates, der Familien finanziell fördert. Das ist aber nicht der Fall.
Stein: Eine Familie zahlt genauso Beiträge in die Rentenkasse wie Kinderlose. Kinderfreibeträge gibt es nicht. Auf der Beitragsseite werden alle gleich behandelt. Eltern, die sich Zeit für ihre Kinder nehmen, sind in diesem System benachteiligt. Denn sie zahlen weniger oder nichts ein.
Stein: Eltern haben sogar ein doppeltes Risiko. Schon während der Erziehungszeit geraten sie zunehmend unter finanziellen Druck. Darüber hinaus droht ihnen Armut im Alter. Das derzeitige Rentensystem ist familienunfreundlich und trägt dazu bei, dass Eltern zunehmend von Armut bedroht werden.
Zur Person: Anette Stein, 47, ist Leiterin des Programms Wirksame Bildungsinvestitionen bei der Bertelsmann-Stiftung in Gütersloh. Die Diplom-Bibliothekarin ist geschieden und hat eine Tochter.
Stein: Es gibt ein massives Demografie-Problem. Gerade haben wir wegen der Babyboomer ein Zwischenhoch. Sie sorgen dafür, dass das Rentensystem im Augenblick noch funktioniert. Anders wird es im Jahr 2030 aussehen. Dann wird es sprunghaft dazu kommen, dass die Beiträge ansteigen und gleichzeitig das Rentenniveau sinkt.
Stein: Nein, die Mütterrente kompensiert nur einen ganz kleinen Teil. In Summe macht das lediglich 8300 Euro aus. Das ist keinerlei Investition in die Zukunftsgeneration. Sie hilft weder den Familien, noch trägt sie dazu bei, das Rentensystem tragfähig zu machen. Im Gegenteil: Die Reserven, die es gerade gibt, werden ausgegeben.
Stein: Nein, aber es muss grundlegend umgebaut werden. Das bisherige System hat einen Konstruktionsfehler, weil es auf der Annahme besteht, dass viele Menschen Kinder bekommen. Das ist aber nicht der Fall. Familien geraten zunehmend unter Druck. Die finanzielle Situation ist überdies maßgeblich für die Bildungschancen des Kindes verantwortlich. Der Bildungsstand wiederum beeinflusst, wie viel ein Kind später in die Rentenkassen einbezahlen wird.
Stein: Es wichtig, überhaupt erstmal den politischen Willen zu formulieren, das Rentensystem grundlegend zu überarbeiten.
Von Verena Koch
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