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Bürgergeld bei „Anne Will“ – Am Ende stellt Kühnert ernüchtert fest: „Das ist Demokratie“

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SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zu Gast bei „Anne Will“.
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zu Gast bei „Anne Will“. © ARD Mediathek (Screenshot)

Bei „Anne Will“ diskutieren CDU-Vize Linnemann und SPD-Generalsekretär Kühnert über das Bürgergeld: Was passieren müsste, damit die Union das Vorhaben der Ampel unterstützt.

Berlin – Am Montag (14. November) entscheidet der Bundesrat über das Bürgergeld – in ihrem Talk am Vorabend will Anne Will von CDU-Vize Carsten Linnemann wissen, was denn eigentlich das Problem der Union mit den Plänen ist. Der klagt, die Sozialdemokraten wollten „die Agenda 2010 rückabwickeln“. Das Prinzip „Fördern statt Fordern“ sei aber richtig – ein Fehler sei hingegen, arbeitsunwilligen Menschen einen zusätzlichen Anreiz für Untätigkeit zu liefern.

Bürgergeld bei „Anne Will“: Kühnert kritisiert Union – „Wollen einen billigen politischen Punkt machen“

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert kann den „weitschweifigen Diskussionen über Leute, die sich nicht anstrengen wollen“ wenig abgewinnen. Er rechnet vor, dass lediglich drei Prozent der Hartz-IV-Empfänger von Sanktionen, etwa wegen einer Verweigerungshaltung, betroffen seien. Wegen dieser drei von hundert Personen sei die Union bereit, „die übrigen 97 Leute als lustlose Trottel darzustellen“. Kühnerts Vorwurf: „Sie wollen einen billigen politischen Punkt machen, indem sie entgegen allen Kenntnissen, die wir haben, und wider besseres Wissen, was Sie auch selbst haben, falsche Behauptungen aufstellen.“

Linnemann hält mit einem Vergleich dagegen: Wenn im Straßenverkehr drei Prozent der Menschen rasen, müssten diese genauso sanktioniert werden. Seine Meinung: „Es muss ein Regelsystem im Staat geben!“ Sei das nicht gegeben, laufe man Gefahr, die Akzeptanz bei der arbeitenden Bevölkerung zu verlieren, meint Linnemann und fügt an: „Schauen Sie doch mal in Berlin, die ganzen Clanmitglieder. Wollen Sie weiter mit denen umgehen und im ersten halben Jahr sagen, Ihr könnt das Geld abgreifen?!“

CDU-Vize Linnemann zu Bürgergeld-Plänen der Ampelkoalition: „Das ist wie ein Fußballspiel ohne gelbe und rote Karten“

Kühnert moniert, Linnemann falle nichts Besseres ein als Stereotype zu bedienen. Dabei könne er einen Vorschlag unterstützen, der geeignet sei, Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit zu helfen. Linnemann pflichtet bei, dass die meisten Menschen unverschuldet in Arbeitslosigkeit geraten und Unterstützung verdienen, ehe er anfügt: „Reden Sie doch mal mit den Menschen, die wirklich in Arbeitscentern unterwegs sind. Die sagen: Wir helfen den Leuten, ja. Aber wir brauchen weiter Sanktionen. Das ist wie ein Fußballspiel ohne gelbe und rote Karten.“

Die Sozialarbeiterin Nele Thönnessen unterfüttert Linnemanns Argument und berichtet aus der Praxis von einem Vater, dem das zuständige Amt empfohlen habe, im kommenden Jahr das Bürgergeld in Anspruch zu nehmen statt zu arbeiten und aufzustocken, weil es sich in seinem Fall mehr lohne. „Wirklich?“, fragt Gastgeberin Will – und richtet sich mit der Frage, ob sich Arbeit dann im Vergleich nicht mehr lohne, an Berlins Arbeitssenatorin Katja Kipping. Eine solche Rechnung entspreche nicht den Fakten, antwortet die Linke: Wer für Mindestlohn arbeite, werde am Ende immer mehr Geld haben. Dennoch findet auch Kipping: „Natürlich müssen wir in diesem Land mehr für Menschen machen, die hart arbeiten, die früh aufstehen.“

Linke-Politikerin Kipping attackiert Linnemann bei „Anne Will“ mit scharfer Zunge

Für ein Raunen in der Runde sorgt im Anschluss Kippings Ansage in Richtung Linnemann: „Die Union klebt am Pappkameraden des angeblich faulen Erwerbslosen wie die Klimakleber am Asphalt.“ Linnemann will den Vorwurf, mit falschen Fakten zu argumentieren, nicht auf sich sitzen lassen und verweist auf eine Rechnung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Weil diese auch die „Anne Will“-Redaktion vorbereitet hatte, blickt die Runde gemeinsam auf das Beispiel. Demnach habe eine vierköpfige Familie, von der ein Elternteil Vollzeit zu Mindestlohn arbeitet, nur dann mehr Geld als unter dem geplanten Bürgergeld, wenn sie Kinderzuschläge und Wohngeld beantrage. Für Linnemann kein erstrebenswerter Zustand: „Und dann müssen die als Bittsteller zum Amt gehen!“

Moderatorin Anne Will mit ihren Gästen am 13.11.2022.
Moderatorin Anne Will mit ihren Gästen am 13.11.2022. © ARD Mediathek (Screenshot)

In Israel und England, führt Linnemann aus, werde das Problem dadurch gelöst, dass Vollzeit-Erwerbstätige am Ende des Jahres automatisch eine Steuergutschrift erhalten. Der Ökonom Clemens Fuest empfiehlt, die Zuverdienstregelungen so anzupassen, „dass Beschäftigung attraktiv wird“. Außerdem müsse man überlegen, wie sich die Stigmatisierung der Bezugsempfänger reduzieren lasse. Wenn jemand Vollzeit arbeite und das Geld dennoch nicht zum Leben reiche, habe man zurecht ein Anrecht auf Sozialleistungen: „Das ist nichts, wofür man sich schämen muss.“

„Anne Will“ - diese Gäste diskutierten mit:

Gespalten ist die Runde in der Frage von Sanktionierungen. Während Linnemann sich mit harter Kante für Sanktionen ausspricht, schränkt Fuest ein, dass Strafen zwar dabei helfen, Menschen schneller in Beschäftigungsverhältnisse zu bringen, dass diese dann aber häufig von kurzer Dauer seien. Kühnert versteht die Aufregung nicht, schließlich sehe das Bürgergeld-System Sanktionierungen in dem Rahmen vor, die das Bundesverfassungsgericht zulasse. Kipping ist dagegen der Meinung, es brauche „auf lange Frist ausgerichtete Arbeitsmarktmodelle anstelle von Sanktionen“.

Thönnessen erklärt, insbesondere junge Menschen profitierten davon, wenn sie Aufmerksamkeit erfahren und in enger Betreuung motiviert würden, Arbeit zu finden. Moderatorin Will stellt infrage, dass das zeitlich überhaupt klappen kann, wenn neue Regelungen zwar teilweise ab Jahreswechsel gelten, aber vor dem 1. Juli nicht mit einer Umsetzung zu rechnen sei. Kühnert sagt dazu: „Wir können nicht hexen. Die Mehrheiten sind so wie sie sind.“ Weder seien bislang die Bundesrats-Mehrheiten gefunden, um das Gesetz zügig zu verabschieden, noch hätten die Ämter das nötige Personal, um die Maßnahmen bis zum Jahreswechsel umzusetzen.

CDU-Politiker Linnemann bei „Anne Will“ zum Bürgergeld der Ampel: „... dann machen wir mit“

Will moniert, dass es dann womöglich besser gewesen wäre, „früher anzufangen und die Jobcenter entsprechend auszustatten“. Kühnert entgegnet ungläubig, die Regierung befinde sich noch im ersten Jahr ihrer Amtszeit. Die Gastgeberin beeindruckt das wenig, sie verweist auf Andrea Nahles (SPD), seit August Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, und ihre Einschätzung, ein Entscheidung bis 25. November sei nötig, um die Auszahlungen zum Jahreswechsel gewährleisten zu können. Kühnert antwortet, dass es deshalb bestenfalls schon am Montag im Bundesrat eine Mehrheit gebe. Andernfalls müsse ein Vermittlungsausschuss eine Einigung herbeiführen, sagt Kühnert: „Danach scheint es ja ein bisschen auszusehen.“

Welche Schritte müsste die Ampel also auf die Union zugehen, um eine Vermittlung herbeizuführen, fragt Will. Linnemann antwortet, dass das Prinzip „Fördern statt Fordern“ nicht abgeschafft werden dürfe. Wer den Sozialstaat nutze, habe auch eine gewisse Bringschuld. Stattdessen sei zu beobachten, dass sich eine „Vollkaskomentalität“ entwickele und der Staat Probleme nur noch mit Geld zuschütte. „Wir sind eine Partei, die auf Eigenverantwortung setzt, nicht so sehr auf das Kollektiv, das alles übernimmt und als Staat alles regelt. Sondern: Das Geld fällt nicht vom Himmel. Wir müssen das selbst erarbeiten. Darauf setzen wir. Und wenn da die Ampel bereit dazu ist, dann machen wir mit.“

„Anne Will“ - Das Fazit der Sendung

Die Bürgergeld-Debatte bei „Anne Will“ ringt über weite Strecken mit Argumenten, die sich kaum von denen unterscheiden, die vor 17 Jahren vor der Einführung des Hartz-IV-Systems ausgetauscht wurden. CDU-Politiker Carsten Linnemann hält es daher für einen „Treppenwitz der Geschichte“, dass er nun in einer Talkshow frühere SPD-Positionen verteidigen müsse.

Eine Ja zum Bürgergeld schließt er kategorisch aus, es sei denn, die SPD ändere ihre grundsätzliche Haltung hin zur Eigenverantwortung der Empfänger. Linke-Politikerin Katja Kipping und SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert stehen Linnemann unversöhnlich gegenüber, eine Annäherung scheint unmöglich. Nicht ohne Frust in der Stimme stellt Kühnert zum Ende der Sendung fest: „Das ist Demokratie.“ (Hermann Racke)

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