Interview mit Migrationsforscher: „Das ist keine Völkerwanderung“

Die Flüchtlingskrise wird momentan immer wieder als "Völkerwanderung" bezeichnet. Im Interview erklärt Migrationsforscher Prof. Dr. Jochen Oltmer, dass diese Bewegungen fast keine Parallelen haben.
Herr Oltmer, ist die gegenwärtige Flüchtlingskrise die neue Völkerwanderung?
Jochen Oltmer: Nein, das ist keine Völkerwanderung. Mit dem Begriff der Völkerwanderung ruft man die Vorstellung hervor, dass hier ganze Völker unterwegs seien. Der Begriff „Volk“ vermittelt, dass es sich hier um lange, konstant existierende Bevölkerungen mit unverwechselbaren Zügen und einheitlichem Willen und gemeinsamer Abstammung handelt. Darum geht es aber derzeit gar nicht.
Womit haben wir es stattdessen zu tun?
Oltmer: Mit einem hochgradig heterogenen Phänomen. Es handelt sich um viele verschiedene Bewegungen, die aus unterschiedlichen Teilen der Welt kommen, und aktuell zufällig zusammen kommen. Da kann man nicht davon sprechen, dass es einheitlich oder gar homogen ist. Das ist Unsinn.
Was ruft der Begriff „Völkerwanderung“ heute bei den Menschen hervor?
Oltmer: Mit dem Begriff verweisen wir auf eine Epoche, nämlich das 5., 6. und 7. Jahrhundert. Menschen, die das hören, sich aber mit der Epoche nicht richtig auskennen, haben sofort Bilder von wilden, barbarischen und triebhaften Menschenmassen im Kopf, die die Zivilisation, nämlich das Römische Reich, zerstörten.
Stimmt das nicht?
Oltmer: Man geht mittlerweile davon aus, dass sich das Römische Reich von innen heraus aufgelöst hat und die sogenannte Völkerwanderung nur einen Teil dazu beigetragen hat, das Reich zu schwächen. Inzwischen wird darauf verwiesen, dass diejenigen, die da unterwegs gewesen sind, Militärverbände mit Anhang waren. Die Vorstellung, es habe die Germanen gegeben, die Westgoten, die Alemanen, das ist nicht mehr haltbar.
Was hat die Menschen damals dazu bewegt, sich auf den Weg zu machen?
Oltmer: Es ging ihnen vor allem darum, Schutz in den Grenzen des Römischen Reiches zu suchen, die Vorteile der dort herrschenden Rechts- und Friedensordnung zu genießen, sowie wirtschaftliche und soziale Chancen zu finden. Es ging ihnen explizit nicht um die Zerstörung der Zivilisation, sondern darum, an ihr teilzuhaben.
Gibt es gar keine Gemeinsamkeit der aktuellen Ereignisse mit der historischen Völkerwanderung?
Oltmer: Wenn man sich vor Augen hält, dass damals hauptsächlich bewaffnete Militärverbände unterwegs waren, dann scheinen mir Analogien nicht weiterzuführen. Die Bewegungen sind damals außerdem innerhalb von Jahrzehnten und Jahrhunderten abgelaufen und nicht innerhalb von Tagen oder Wochen.
Was halten Sie von Begriffen wie Flüchtlingsstrom oder Flüchtlingswelle?
Oltmer: Die halte ich ebenfalls für sehr problematisch. Denn damit wird angedeutet, dass diese Bewegungen unkontrollierbar sind, sich ihren eigenen Weg suchen und unaufhaltsam sind. Die ganze Wasser-Metaphorik in diesem Zusammenhang ruft hervor, dass die Folgen von Migration unkalkulierbare Gefahren seien für Wohlstand, Sicherheit, Homogenität. Damit wird die Vorstellung verbreitet, dass Migration ein Risiko ist, das dringend politisch bearbeitet werden muss.
Das heißt, gewisse Begrifflichkeiten können bei den Menschen Angst auslösen?
Oltmer: Ja. Ich denke, dass Begriffe wie Völkerwanderung oder Flüchtlingsstrom Angst bei den Menschen hervorrufen können. Zum einen entsteht das Bild von etwas Unaufhaltsamen und zum anderen das Bild wilder Barbaren, die die Zivilisation gefährden.
Mit welchem Begriff könnten wir die Situation heute neutral beschreiben?
Oltmer: Was wir konkret erleben, sind Flüchtlingsbewegungen. Hier würde uns der Plural weiterhelfen, um die Vielgestaltigkeit der Prozesse zu verstehen. So sehen wir, dass es unterschiedliche Bewegungen sind, die derzeit parallel laufen. Man könnte auch einfach von Migration als Überbegriff sprechen. Flucht ist eine Erscheinungsform von Migration. Mit Migrationsbewegungen oder Flüchtlingsbewegungen bleiben wir neutraler und verbinden damit nicht irgendwelche Bilder, die unbewusst aufgerufen werden.
Zur Person
Prof. Dr. Jochen Oltmer (50) lehrt Migrationsgeschichte am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaften, promovierte und habilitierte in Osnabrück. Oltmer ist unter anderem Mitglied im Rat für Migration in Berlin. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. (cha)
Hintergrund: Hunnen vertrieben germanische Stämme
Etwa vom 4. bis 7. Jahrhundert nach Christus erlebte die Welt eine Migrationbewegung germanischer Volksstämme in Richtung Westen. Auslöser der Bewegung war der Hunnensturm im Jahr 375. Die Hunnen, ein Reitervolk aus Asien, deren genaue Abstammung nicht geklärt ist, drangen überraschend über die Wolga in den Balkan vor. Sie versetzten die germanischen Stämme in Angst und Schrecken. Nicht nur weil sie geschickt vom Rücken ihrer Pferde aus kämpften, sondern angeblich auch deshalb, weil die Hunnenkrieger ziemlich gruselig ausgesehen haben sollen.
Die Hunnen vertrieben die germanischen Stämme wie Vandalen, Langobarden und Westgoten. Die Völker mussten ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete verlassen und wanderten teils tausende von Kilometer weit bis ins Weströmische Reich.
Die Völkerwanderung - der Begriff entstand erst im 19. Jahrhundert - veränderte den Kontinent maßgeblich. Das Römische Reich zerfiel und es entstanden viele germanische Königreiche.
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