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„Heizen auf Arzt-Rezept kann keiner wollen“: FDP, SPD und Grüne schmettern Gas-Wunsch der Industrie ab

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Von: Florian Naumann

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Wer bekommt Gas zugeteilt, wenn Lieferungen aus Russland ausbleiben? Aus der Industrie werden Forderungen laut - doch die Ampel-Fraktionsvizes widersprechen.

Berlin/München – Durch Nord Stream 1 fließt kein Gas nach Deutschland – das ist seit Montag (11. Juli) der Status Quo. Vorerst: Offizieller Grund sind Wartungsarbeiten an der Pipeline. Doch nicht nur Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) fürchtet, dass Russland die Lieferungen gar nicht mehr aufnehmen wird. Für die Bundesrepublik und ihre Gasversorgung wäre das spätestens in einigen Monaten ein massives Problem.

Einen ersten Vorgeschmack auf die befürchteten Verteilungskämpfe um Wärme und Energie gibt es schon jetzt: Aus der Wirtschaft sind Rufe nach bevorzugter Zuteilung des begehrten Brennstoffes zu hören – nicht zuletzt unter Verweis auf Arbeitsplätze im Land. Die letzte Entscheidung hätte aber die Politik. Auf Anfrage von Merkur.de von IPPEN.MEDIA haben Fraktionsspitzen von Bundestags-SPD, -FDP und -Grünen nun auf die Forderungen reagiert: Mit einer klaren Positionierung.

SPD-Fraktionschef Matthias Miersch will den Privathaushalten in Putins Gas-Krise klar die Priorität geben - samt „Schutzschirm“.
SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch will den Privathaushalten in Putins Gas-Krise klar die Priorität geben - samt „Schutzschirm“. © Kay Nietfeld/dpa

Gaskrise in Deutschland: SPD-Fraktionsvize Miersch will „Schutzschirm“ für die warme Wohnung

Der Hintergrund: Christian Kullmann, Chef des Chemieverbandes VCI, hatte am Montag kaum verhohlen an der bislang im „Notfallplan Gas“ vorgesehenen Bevorzugung von Privathaushalten bei der Gaszuteilung gerüttelt. Die Arbeitsplätze und Einkommen der Wirtschaft seien wichtiger als die „vollständige“ Sicherstellung der privaten Gasversorgung, sagte er der Süddeutschen Zeitung: „Was nützt es, wenn die Haushalte zwar weiter Gas bekämen, es aber nicht mehr bezahlen könnten?“

SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch schloss sich diesem Argument nicht an: Er will weiterhin der nötigen Wärme in Privatwohnungen und Krankenhäusern Vorrang geben. „Wir brauchen einen Schutzschirm für Verbraucher, der garantiert, dass die Wohnung warm und Energie bezahlbar bleibt“, betonte er im Gespräch mit Merkur.de von IPPEN.MEDIA.

Deutschlands Gaskrise im Ukraine-Krieg: FDP warnt vor „Heizen auf Rezept“

Miersch präzisierte, nötig sei, dass „private Haushalte, soziale Einrichtungen, wie etwa Krankenhäuser, und Gaskraftwerke, die zur Wärmeversorgung von Haushalten dienen, besonders geschützt sind“. Auch die FDP sieht das so - jedenfalls, was Privatkunden, Heime oder Krankenhäuser angeht: Deren Schutz sei „europäisches Gesetz. Daran halten wir uns“, erklärte Liberalen-Fraktionsvize Lukas Köhler. Alles andere als ein pauschaler Vorrang des Wohn-Heizens wäre auch kaum realisierbar, argumentierte er. So müssten anderenfalls etwa Erkrankungen von Bewohnern bei der Gas-Zuteilung für Wohnungen und Häuser berücksichtigt werden: „Ausreichend Gas zum Heizen auf Rezept vom Arzt – das kann keiner wollen.“

Der Einwand Kullmanns fand sich auch in Köhlers Äußerungen gegenüber Merkur.de von IPPEN.MEDIA wieder. Der oberbayerische FDP-Politiker zog allerdings andere Schlüsse als der Industrieverbands-Boss. „Eine warme Wohnung allein“ helfe nicht weiter, „wenn gleichzeitig der Arbeitsplatz verloren geht“, sagte Köhler. „Deshalb ist es wichtig, dass wir alles dafür tun, dass es gar nicht erst zu einer Mangellage kommt.“

„Ausreichend Gas zum Heizen auf Rezept vom Arzt – das kann keiner wollen.“ 

FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler zu Gedankenspielen über Abstriche bei der Gasversorgung der Privathaushalte.

Auch Mierschs Grüne-Amtskollegin Julia Verlinden ließ keine Zweifel an den Prioritäten aufkommen. Sie verwies ebenfalls auf „europäische Regeln“: „Demnach werden Haushalte und kritische Infrastruktur in der Versorgung bevorzugt.“ Aktuell werde aber vor allem daran gearbeitet, dass kein Mangel entsteht. Dabei helfe das zuletzt beschlossene „Osterpaket“ der Ampel, oder auch das vorübergehende Comeback von Kohlekraftwerken, erklärte Verlinden auf Anfrage von Merkur.de von IPPEN.MEDIA.

Gaskrise in Deutschland: Wer bekommt das knappe Gut? Grüne und FDP ausnahmsweise einig

Und was passiert im drastischsten Szenario mit dem Erdgas-Hunger der Industrie? Die Münchner Stadtwerke warnten Großabnehmer zuletzt sogar bereits vor möglichen Lieferunterbrechungen. Verständnis für die Belange der Wirtschaft äußerte auch der SPD-Linke Miersch. Auf die Frage, wie und wann gegebenenfalls über die Zuteilung von Gas an die verschiedenen Branchen und Betriebe entschieden werde, wollte er sich allerdings noch nicht endgültig festlegen.

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„Ich verstehe, wenn sich gerade energieintensive Unternehmen große Sorgen über die Versorgungssicherheit machen“, sagte er. Doch die Lage ist aus Mierschs Sicht zu komplex für pauschale Forderungen: „Bei einer möglichen Zuteilung von Gas müssten nicht nur die Belange der betroffenen Unternehmen berücksichtigt werden, sondern auch die netztechnische Situation vor Ort. Hier geht es immer auch um Einzelfallentscheidungen“, sagte er.

Für die Wirtschaft werde es durch hohe Preise und wohl auch ein Auktionsmodell weitere „Sparimpulse“ geben, erklärte indes Verlinden - wer auf andere Brennstoffe zurückgreifen oder Produktion verschieben könne, werde verzichten und davon profitieren. Die oft uneinigen Koalitionspartner Grüne und FDP liegen in diesem Punkt auf einer Linie: Auch Köhler setzt auf Auktionen und damit verbundene finanzielle „Belohnungen“ für Unternehmen bei Verzicht. Grobe Kriterien für eine staatliche Verteilung von Gas gebe es zwar schon, die Bundesregierung arbeite mit der Industrie weiter daran. Das sei mit Blick auf drohende „Totalschäden“ in der Glasindustrie auch sinnvoll. In der Praxis wäre eine „Zuteilung“ aber „mit enormen Herausforderungen verbunden“, warnte Köhler.

Putin macht Deutschlands Gasproblem: SPD und Grüne setzen auf Energiesparen – und auf Europa

Miersch ist indes auch ein weiterer Punkt wichtig: Solidarität beim Ringen ums Gas ist nicht nur in Deutschland geboten - sondern auch in der ganzen Europäischen Union. „Sollte Putin uns wirklich den Gashahn dauerhaft abdrehen, muss Europa und unsere Gesellschaft zusammenstehen“, betonte er. Das könnte auch schon ein erster Appell sein, im Ernstfall grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten. Habeck etwa sieht darin eine mögliche Stütze für Deutschlands Gasversorgung, wie er am Montagabend in der ARD-„Tagesthemen“ erklärte.

Vorerst gebe es aber noch einige Hoffnung, findet Miersch: Man werde „alles dafür tun“, die Vorgaben der Notfallstufe im Notfallplan Gas nie anwenden zu müssen. „Gemeinsam gut durch den Winter zu kommen, ist unser oberstes Ziel.“ Verlinden hat dafür auch ein Rezept parat: „Energiesparen hat oberste Priorität.“ Das gelte bereits jetzt. „Jede Kilowattstunde, die wir jetzt im Sommer sparen, hilft uns, die Gasspeicher für den Winter zu füllen“, sagte die Grüne-Fraktionsvize. (fn)

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