Ukraine plant „etwas viel Größeres“: Gegenoffensive gegen Russland verspätet sich
Das Rätselraten über die angekündigte ukrainische Gegenoffensive hält an. Selbst Fachleuten fällt es schwer, die Lage im Ukraine-Krieg einzuschätzen.
Kiew - Die Front im Osten der Ukraine ist schwer umkämpft. Vor allem die Schlacht um Bachmut hält mit unverminderter Härte weiter an. Zuletzt aber änderte sich das Bild dort ein wenig. Nach monatelangem Verteidigungskampf meldete die ukrainische Armee einige Erfolge in Bachmut. Was aber hat das zu bedeuten? Könnte dies vielleicht der Beginn der seit langem erwarteten ukrainischen Gegenoffensive sein? Das ist kaum zu beantworten, selbst Fachleuten fällt es derzeit äußerst schwer, die Lage im Ukraine-Krieg richtig einzuschätzen.
Lucas Webber, Mitbegründer der Website Militant Wire, sprach gegenüber der Nachrichtenagentur AFP von „örtlich begrenzten Gegenoffensiven“ der Ukraine in und um Bachmut. Auch an anderen Stellen der Front spiele sich Ähnliches ab. „Es ist schwer zu sagen, ob die geplante eigentliche Gegenoffensive begonnen hat, aber diese Aktionen deuten darauf hin, dass die Ukraine etwas viel Größeres plant“, so Webber.

Internationales Rätseln über die ukrainische Gegenoffensive
Wo Kiew angreifen wird, ist aufgrund der extremen Länge der Front, die sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt, kaum vorauszusehen. Bachmut ist Webber zufolge strategisch eher unbedeutend, aber ein Gegenangriff dort „wäre peinlich für den Kreml und die Gruppe Wagner, die die Stadt schon fast eingenommen hat“. Ein ukrainischer Erfolg dort würde „Russland frustrieren und wäre ein erheblicher Rückschlag für Moskau“.
„Ich würde zu der Interpretation tendieren, dass die Ukraine versucht, die russischen Streitkräfte in Bachmut festzusetzen, um sie zu zwingen, an einem bestimmten Punkt der Front zu bleiben“, sagte Ivan Klyszcz vom Thinktank ICDS in Estland der AFP. Gleichzeitig könnte die Ukraine andernorts angreifen. „In den russischen Militärkanälen kam kürzlich Panik auf wegen angeblicher ukrainischer Bewegung auf Stellungen in den von den Russen kontrollierten Gebieten“, sagt Klyszcz. Doch diese Quellen seien „nicht immer zuverlässig“.
Vorbereitungen für Gegenoffensive der Ukraine laufen wohl
Kiew könnte auch versuchen, das Atomkraftwerk Saporischschja im Südosten des Landes zurückzuerobern. Vor einer Woche hatte sich der Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde, Rafael Grossi, besorgt über eine „zunehmend unvorhersehbare und potenziell gefährliche“ Situation um das AKW geäußert. Andere westliche Analysten rechnen mit Vorstößen im Süden oder aber auch auf die besetzte Stadt Sewerodonezk im Osten.
Die Anzeichen für eine Gegenoffensive haben sich zuletzt jedenfalls immer mehr verstärkt. Als Vorbereitung könnten auch die wiederholten Anschläge auf russische Züge und damit auf den Nachschub dienen. Erst am Donnerstag (18. Mai) entgleiste auf der von Russland annektierten Halbinsel wieder ein Güterzug. Die Krim-Eisenbahn sprach von einer „Einmischung Außenstehender“. Laut Augenzeugen soll eine Explosion dem Unfall vorangegangen sein. Auch in Russland waren in Grenznähe zur Ukraine in letzter Zeit immer wieder Güterzüge durch Sabotage zum Entgleisen gebracht worden.
Wann beginnt die Gegenoffensive im Ukraine-Krieg? Kiew schweigt
Doch von offizieller Seite ist noch nichts über eine Gegenoffensive der Ukraine bekannt. Zuletzt hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj deutlich gemacht, dass sich die Gegenoffensive noch etwas verzögern werde. Sein Land warte noch auf zugesagte Ausrüstung, sagte Selenskyj in einem BBC-Interview. Zwar könne die Ukraine auch jetzt schon erfolgreich angreifen. „Aber wir würden viele Menschen verlieren. Ich finde, das ist inakzeptabel“, sagte Selenskyj. Konkret nannte der Staatschef gepanzerte Fahrzeuge, die noch nicht eingetroffen seien.
Allerdings darf man auch das Überraschungselement nicht außer Acht lassen. So teilte ein hochrangiger US-Beamter dem Kongress kürzlich mit, dass die USA die ukrainische Armee extra darin geschult hätte, den Gegner zu überraschen. Für die Ukraine scheint es in der Tat am sinnvollsten, Moskau und Wladimir Putin im Unklaren zu lassen, ob die Gegenoffensive bereits läuft oder ob es sich bei einem Angriff nur um einen weiteren „Test“ handelt. Man kann also davon ausgehen, dass Selenskyjs Zurückhaltung eine gezielte Taktik der Ukraine ist. Tatsächlich ist es auch möglich, dass die Welt erst dann erfahren wird, dass die Gegenoffensive begonnen hat, wenn die ersten greifbaren Ergebnisse bekannt werden. (cs/afp)