Mehr Stammtische braucht das Land: Was in Kneipen geredet wird – und warum es so wichtig ist

Am 24. September wird der deutsche Bundestag gewählt. Wie geht es Deutschland vor der Wahl? Wir machen eine Reporter-Reise durch die Republik. Unser Thema heute: die Stammtische.
Franz wartet. Er sitzt allein am großen Holztisch in der Wirtschaft, den Blick auf sein Maxlrainer-Bier gerichtet. Der Tisch mit dem Metallschild „Stammtisch“ ist der größte in der Biberger Alm in der Gemeinde Tuntenhausen in Oberbayern. Franz sitzt hier jeden Tag. 54 Jahre alt, Vollbart, krause Haare – ein Urbayer, geboren im 200-Seelendorf Biberg, in dem die Alm die einzige Wirtschaft ist.
Überall in Deutschland treffen sich Menschen an Stammtischen und reden. Übers neue Auto, über Klatsch. Und: Politik. Stammtischparolen - das Wort hat einen Beigeschmack. Doch: „Wenn man die Distanz zwischen der Lebenswelt und der politischen Welt überwinden will, muss man Stammtische anzapfen“, sagt der Dresdener Politikwissenschaftler Hans Vorländer.
Am Montag gibt es im Haus Gammler im Essener Norden gleich zwei Stammtische. Der Norden der Stadt ist das Revier von Ex-Bergmann Guido Reil, der 26 Jahre lang für die SPD antrat und bei der NRW-Landtagswahl für die AfD bis zu 22 Prozent holte.
An beiden Stammtischen im Haus Gammler sitzen nur Frauen. Einmal im Monat Spielerfrauen, jede Woche der einstige Sparclub. Heute sind es sechs Frauen. Karin hat ein Stauder-Pils bestellt, für 1,30 Euro. Bis November hat sie noch zwei- bis dreimal die Woche hinter der Fleischtheke gearbeitet, da war sie 71. Die Rente reichte nicht. „100 Euro Lohn wurden von der Rente abgezogen, 70 Euro Fahrgeld, 230 blieben übrig“, erzählt sie. Seit zwölf Jahren ist sie Witwe. Der Stammtisch ist ihr sozialer Anker: „Wenn man den ganzen Tag allein zu Hause sitzt, ist das hier einfach schön.“

An der Theke diskutiert Landschaftsgärtner Enrico (46). „Man braucht mehr Leute, die den Menschen zuhören“, findet er, „sonst wird die AfD zu stark“. Mehr Polizisten brauche das Land, dann könne man sich „noch mehr reinholen“, sagt er – und meint die Flüchtlinge. „Früher hatte ich nie Angst“, sagt Christa (72), „heute schon“. Ihre Stammtischschwestern relativieren: „Wer in der Bahn aufsteht, das sind immer die jungen ausländischen Männer, nie die Deutschen“, sagt Erika.
Enrico diskutiert derweil mit einem anderen Stammgast: „Warum besorgen die sich alle zuerst ein Messer?“ Enrico winkt ab, sagt dann: „Mach mal halblang.“ Der Andere zieht ab.
„Man lässt Dampf aus dem Kessel. Erst kocht er hoch, dann ist es wieder gut“, erklärt Politologe Vorländer. Das Problem: Stammtische gibt es immer weniger. „Wir haben keine Orte mehr, wo man geschützt Zorn und Wut ablassen kann.“ So werde etwa der Stammtisch bei den Pegida-Demos auf die Straße verlagert.
In der DDR waren Stammtische verpönt, in Wirtshäusern frei zu reden war fast unmöglich. Stets konnte ein Spitzel lauern. Wie in Quedlinburg, Sachsen-Anhalt, Landkreis Harz, der mit der geringsten Wahlbeteiligung in Deutschland bei der Bundestagswahl 2013. Im „Wispel-Pub“ treffen sich alle 14 Tage die Schwimmmeister und ihre Freunde und trinken Hasseröder. „Die haben uns verkauft“, sagt Rolf (63), der sonst den ganzen Abend nichts sagt.
Der Zusammenbruch der DDR, er kam auch für Quedlinburg zu schnell. Zigtausende Menschen verloren ihre Jobs, das Eisenhüttenwerk, der Saatgutbetrieb, die LPG – alles dicht. „Wenn Opel in Bochum zumacht und die im Fernsehen von 3600 verlorenen Arbeitsplätzen reden, da lachen wir nur“, sagt Holger (53). „Natürlich haben wir ein bisschen Mitleid“, meint Kalle (63). Aber eben nur ein bisschen. Wenn die Männer von der Wende erzählen, von Zigtausenden, die vor dem Nichts standen, ist das Trauma zu ahnen, das immer noch die Grenze zwischen Ost und West markiert. „Für Politik und Parteien war es immer wichtig, einen Fuß in die Stammtische zu bekommen, zu hören, was der Bürger tatsächlich sagt“, sagt Vorländer.

Der Bürgermeister aus Tuntenhausen schaue regelmäßig beim Stammtisch auf der Biberger Alm herein, erzählt Franz, der 54-jährige Schreiner aus Biberg. Auch manch nichtöffentlicher Teil der Gemeinderatssitzung ist Thema am Holztisch. An dem sitzen jetzt auch Hans (54) und Sebastian (22). Biberg in Oberbayern gehört zur Gemeinde Tuntenhausen, die vor allem durch ihren konservativ-katholischen Männerverein bekannt ist. Biberg hat 200 bis 300 Einwohner, keine Schule, keinen Kindergarten, keinen Supermarkt. Gewählt wird bei Bundestagswahlen die CSU. „Wir haben ja keine Wahl“, sagt Hans, der Steuerungselektroniker. Die CSU vertrete die bayrischen Interessen in Deutschland - was soll man sonst wählen? „Bei der Landtagswahl ist das was anderes.“
Sebastian ist Anhänger der Ehe für Alle, liebäugelte mal mit den Grünen - aber grün wählen, nun ja, das dann doch nicht. „In vielem sind sie mir zu extrem.“ Das Wort „Veggie-Day“ wirkt hier wie von einem anderen Stern.
Am Stammtisch wird alles besprochen, was das Dorf bewegt: von der geschlossenen Hebammenstation in der Stadt, über eine Reichsbürgerfamilie bis zur Erkundung des Mars’. Gestritten werde nur, „wenn irgendeiner einen Schmarrn erzählt“, knurrt Franz. Ganz so ist es aber wohl nicht. Vor allem beim Thema Reichsbürger geht es hoch her. „Es gibt Leute, die sagen bis zum zweiten Bier nix, aber ab dem fünften wird es lauter“, sagt Sebastian. „Das ist, als wenn´s dich auf Null setzt, und dann gehst entspannt nach Haus“, meint Hans.
In der Psychologie gibt es dafür ein Wort: Katharsis, die Befreiung von seelischen Konflikten durch emotionale Verarbeitung. Mehr Stammtische braucht das Land.
Von Wiebke Karla, Redakteurin der Ruhr Nachrichten
Deutschland vor der Wahl: Wie ist der Zustand des Landes im Herbst 2017? Diese Frage haben sich Autoren von sechs Zeitungen gestellt - und Antworten gefunden. Wir stellen sie in einer Serie vor. Alle Teile der Serie gibt es unter www.deutschlandessay.de