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„Polexit“ durch die Hintertür? Urteil birgt Sprengstoff - Von der Leyen „zutiefst besorgt“

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Von: Joseph Scheppach

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Ursula von der Leyen und Mateusz Morawiecki bei einem Treffen im Sommer 2019.
Ursula von der Leyen und Mateusz Morawiecki bei einem Treffen im Sommer 2019. © GRZEGORZ KRZYZEWSKI/FOTONEWS/www.imago-images.de

Das polnische Verfassungsgericht hat ein beispielloses Urteil gefällt - Experten sehen bereits einen „Polexit“ durch die Hintertür. Die EU-Kommission droht.

Warschau - Ist es ein EU-Austritt auf juristischem Wege? Das polnische Verfassungsgericht hat den Vorrang von EU-Recht vor polnischen Gesetzen abgeschafft. Damit entziehen Polens höchste Richter den europäischen Rechtsnormen die Geltung im eigenen Land. Polens Mitgliedschaft in der EU, aber auch im Europarat werden jetzt ernsthaft infrage gestellt“, sagte Laurent Pech, Rechtsprofessor an der Middlesex Universität in London, der Welt.

Das oberste Warschauer Gericht hatte am Donnerstag die EU-Verträge in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Das Gericht folgte damit der Auffassung von Regierungschef Mateusz Morawiecki. Auslöser waren Entscheidungen der EU-Gerichtsbarkeit in Luxemburg gegen die umstrittenen Justizreformen der rechtsnationalistischen polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS).

Polen: „Polexit“ aus der EU eingeleitet? Experte sieht nun „juristisch eine leere Hülle“

Pech urteilte seinerseits hart über den Richterspruch. „Die polnische Staatsführung“, so der international angesehene Experte für den polnischen Justizabbau, „hat über ihr ‚Puppen-Verfassungsgericht‘ formal einen ‚Polexit‘ aus der EU-Rechtsordnung eingeleitet“. Polen werde zum „verfaulten Zahn Europas. Juristisch eine leere Hülle.“ Seit sechs Jahren bereits kremple die polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) das polnische Justizsystem um, bei der auch unliebsame Richter aus ihren Ämtern entfernt wurden*. Laufend würden Entscheidungen des EuGH ignoriert.

Polnisches Verfassungsgericht
Nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts könnte sich Polen über Urteile des EuGH hinwegsetzen. © Pawel Supernak/PAP/dpa

Die Justiz in Polen* gilt Experten zufolge nicht mehr als unabhängig. Erst in diesem Jahr hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass das polnische Verfassungsgericht in Teilen illegal besetzt sei. Brüssel wirft der Regierung in Warschau vor, die Unabhängigkeit der Gerichte und die Gewaltenteilung zu untergraben, und hat deshalb eine Reihe von Verfahren angestrengt.

Kritik gab es auch aus den Regierungen mehrerer EU-Staaten. „Man muss ganz klar sagen, dass diese Regierung in Polen mit dem Feuer spielt“, sagte etwa Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Klar sei, dass es in der EU „nicht nur juristisch, sondern auch politisch zu einem Bruch kommen kann“. Asselborn betonte, der Vorrang des europäischen Rechts vor nationalem Recht sei grundlegend für das Zusammenleben in Europa. „Wenn das gebrochen wird, wird Europa in der Form, wie wir es kennen, wie es aufgebaut wurde nach den Römischen Verträgen, nicht mehr bestehen.“ Der französische Europa-Staatssekretär Clément Beaune warnte vor dem „Risiko eines de facto-Austritts“ Polens aus der EU.

EU: Maas droht Polen mit Konsequenzen - von der Leyen will „alle Befugnisse nutzen“

Nach dem Urteil rief auch Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) Polen auf, sich an die europäischen Regeln zu halten. „Wenn ein Land sich politisch dafür entscheidet, Teil der EU zu sein, muss es auch dafür Sorge tragen, die vereinbarten Regeln voll und ganz umzusetzen“, sagte Maas den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Indirekt drohte er mit Konsequenzen, wenn dies nicht geschehe.

Deutlicher wurde EU-Kommissionspräsidentin* Ursula von der Leyen. Sie will mit allen verfügbaren Mitteln auf das Urteil reagieren. „Ich bin zutiefst besorgt über das gestrige Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs“, teilte die deutsche Politikerin am Freitag in einer Stellungnahme mit. Sie habe die Dienste der Brüsseler Behörde angewiesen, das Urteil gründlich und zügig zu analysieren. Auf dieser Grundlage werde man über nächste Schritte entscheiden. 

Von der Leyen betonte, dass den EU-Verträgen zufolge alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bindend seien. „EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich verfassungsrechtlicher Bestimmungen.“ Dazu hätten sich alle EU-Staaten als Mitglied der EU verpflichtet. „Wir werden alle Befugnisse nutzen, die wir unter den Verträgen haben, um dies sicherzustellen.“

„Polen wehrt sich gegen den Souveränitätsraub der EU“: AfD-Chef Meuthen begrüßt Urteil  

Mit ganz anderer Stoßrichtung bezog Jörg Meuthen, Bundessprecher der AfD, Stellung. „Die Europäische Union hat zu akzeptieren, dass die nationalen Verfassungsgerichte nicht die Erfüllungsgehilfen des Europäischen Gerichtshofs sind“, sagte der Leiter der AfD-Delegation im EU-Parlament. Es sei inakzeptabel, wenn die EU nach Gutsherrenart Polen erpresse, indem sie die Mitgliedschaft im Staatenbund an die sukzessive Kompetenzübertragung von Warschau nach Brüssel knüpfe. Dadurch werde die nationale Souveränität schleichend ausgehöhlt.

Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki beteuerte unterdessen den Willen, Teil der EU zu bleiben. „Polens Platz ist und bleibt in der europäischen Völkerfamilie“, schrieb er am Freitag auf Facebook. Der Beitritt Polens und der mitteleuropäischen Länder zur Europäischen Union sei einer der Höhepunkte der vergangenen Jahrzehnte gewesen - für Polen wie auch die EU. „Morawiecki verwies darauf, dass das Urteil das bestätigt habe, was sich aus der Verfassung ergebe: Dass das polnische Verfassungsrecht anderen Rechtsquellen überlegen sei. Das hätten in den vergangenen Jahren auch die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedsstaaten bestätigt. „Wir haben die gleichen Rechte wie andere Länder“, schrieb er. *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA

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