Prigoschins Bachmut-Plan sagt weniger über Front aus – aber umso mehr über den Machtkampf in Russland

Auf den ersten Blick verzeichnet die russische Söldner-Truppe Wagner Erfolge in der Ostukraine. Doch tatsächlich hängt der angekündigte Rückzug aus Bachmut eher damit zusammen, dass Jewgeni Prigoschin nicht mehr über genügend Ressourcen verfügt.
Diese Analyse liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Security.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Security.Table am 23. Mai 2023.
In weniger als sieben Monaten ist die ukrainische Stadt Bachmut in der Ukraine komplett zerstört worden. Ihre Einwohner sind geflohen, viele starben. 70.000 Menschen lebten dort vor der Invasion der Russen im vergangenen Jahr, so viele wie in den deutschen Städten Bamberg oder Ingolstadt.
Verantwortlich für die Verwüstung Bachmuts ist Jewgeni Prigoschin: Krimineller, Catering-Unternehmer und Gründer der kriegserfahrenen russischen Söldner-Gruppe Wagner. Prigoschin steht dem russischen Präsidenten so nahe, dass er sich Schimpftiraden gegen die Armeeführung erlauben darf, die jedem normalen Russen viele Jahre Strafkolonie einbringen würden.
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Aus Prigoschins Perspektive ist Bachmut nicht verwüstet, sondern von seiner Truppe erobert worden. Und weil diese Aufgabe erledigt sei, werde sich seine Truppe, von Donnerstag, 25. Mai, an, geordnet aus der Stadt zurückziehen und sie der Kontrolle der regulären russischen Armee übergeben, kündigte der Chef der Söldner am Samstag an.
Der Söldner-Unternehmer stellt Kosten-Nutzen-Rechnung auf
Der Unternehmer Prigoschin scheint verstanden zu haben, dass er im Moment militärisch in der Ukraine nichts gewinnen kann. Er darf kein Personal mehr in russischen Gefängnissen rekrutieren und auch die Versorgung mit Munition entspricht nicht seinen Vorstellungen. Das hat er mehrfach beklagt. Sein möglicher Rückzug – ob er ihn so umsetzen wird, ist offen – sagt deshalb weniger über die Situation an der Front und mehr über die schwierige Beziehung zwischen Prigoschin und der russischen Staatsführung aus.
Kiew jedenfalls gibt Bachmut nicht verloren. Südwestliche Teile der Stadt seien noch unter ukrainischer Kontrolle, ebenso gebe es Vorstöße an den Flanken, so das Verteidigungsministerium Anfang der Woche.
Wenn Prigoschin jetzt Bachmut der russischen Armee überlasen will, dann weil er seine eigenen, erfahrenen Leute schonen will. Nach Einschätzung der US-Analysten vom Institut for the Study of War (ISW) drohte Wagner eine Einkreisung durch ukrainische Kräfte. Dass Prigoschin offenbar bereit ist, reguläre russische Soldaten zu „opfern“, hatte jüngst erst ein Bericht der Washington Post deutlich gemacht. Insgesamt, so die aktuelle ISW-Analyse, seien die Kräfte Wagners erschöpft, sie könnten derzeit keine größeren Angriffe unternehmen.
Kritik auf Bestellung
Putins Mann fürs ganz Grobe hat sich in den vergangenen Monaten und Wochen immer wieder sehr heftige verbale Gefechte mit der russischen Armeeführung geliefert. Damit übernimmt er für den Kreml zwei wichtige Funktionen: Er geht rücksichtslos im Feld vor – und er übt rücksichtslose Kritik.
Russlands Präsident Wladimir Putin, der durch diverse Gesetze jegliche Kritik an ihm und an der Armee verbieten ließ, braucht einen Hofnarr. Er allein darf die Kritik äußern, die dem Kreml nützt. Insofern sei der öffentliche Streit „kein Kampf der Eliten“ in Russland, erläutert der Militärexperte Kirill Shamiev vom European Council on Foreign Relations (ECFR). „Prigoschin versteht es, sich gut zu positionieren. Er stellt sich als einen Kommandeur dar, der sich um die Soldaten kümmert. Er schimpft auf die Generäle. Das ist für Putin natürlich hilfreich, weil die normalen Bürger dann denken, dass die Generäle schuld seien, Putin selbst kann nichts für die Probleme“, sagt Shamiev im Gespräch mit Table.Media. „Prigoschin hat eine hervorragende PR-Agentur und wird gebraucht.“
Erstmals bekam Prigoschin sogar von Putin persönlich Anerkennung für seine Rolle in Bachmut. Der russische Präsident und das russische Verteidigungsministerium gratulierten ihm in der Nacht auf Sonntag. Dieser Schritt kann eine Reaktion darauf sein, dass Prigoschin „seinen Sieg“ über soziale Medien bereits so weit bekannt gemacht hat, dass Moskau seine Rolle nicht mehr verschweigen konnte. Was Prigoschin als Nächstes plant, lässt er in seiner Stellungnahme offen.
Der FSB ist über Prigoschins Autonomie nicht glücklich
Mit seinem eigenen Presseservice auf Telegram, auf dem er Anfragen verschiedener Medien und seine Antworten veröffentlicht, erreicht er mehr als 423.000 Abonnenten. Dort kann er es sich auch erlauben, auf die wichtigsten staatlichen Medien zu schimpfen. Es gibt offenbar keinen Bereich, den der Kreml orchestriert, auf den Prigoschin nicht schimpfen darf – außer auf Putin.
Die Wagner-Gruppe sei die am stärksten autonome private militärische Struktur in Russland, erläutert Kirill Shamiev. Es habe während des Krieges Versuche gegeben, sie zu integrieren. „Der Chef der russischen Streitkräfte, Waleri Gerassimow, hat genau verstanden, dass solche autonomen Strukturen ein Risiko für die Führung sind und hatte versucht, Wagner einzubinden, aber ohne Erfolg.“
Ob Prigoschin selbst politische Ambitionen habe, sei unklar, sagt Shamiev. „Er hat sich mit zu vielen zerstritten. Auch der FSB ist nicht besonders glücklich über ihn, weil er nicht unter deren Kontrolle steht. Er ist ähnlich wie Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadyrow: eine Ausnahme in der russischen Machtstruktur. Eine gefährliche Ausnahme.“ (Von Viktor Funk)