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Experte zur OB-Wahl in Kassel: „Geselle-Wähler haben ihren Frust geäußert“

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Von: Matthias Lohr

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Der Politologe Markus Klein untersucht die Kasseler OB-Wahl, weil sie so ungewöhnlich war. Hier erklärt er, warum Amtsinhaber Geselle zurückzog und wieso Direktwahlen auch Nachteile haben.

Kassel – Die Oberbürgermeisterwahl in Kassel wird jetzt wissenschaftlich untersucht. Markus Klein, Politik-Professor an der Universität Hannover, bezeichnet die Abstimmung als „für die Wissenschaft spannenden Sonderfall“, da Amtsinhaber Christian Geselle nicht mehr als SPD-Kandidat, sondern als unabhängiger Bewerber antrat. In den nächsten Tagen werden vom Institut für Politikwissenschaft in Hannover 5000 zufällig ausgewählte Kasseler angeschrieben. Möglichst viele sollen an einer Internet-Befragung teilnehmen. Erste Ergebnisse werden in zwei Monaten in einer Zwischenauswertung veröffentlicht. Wir sprachen mit Klein über den knappen Sieg von Sven Schoeller (Grüne).

Wie sehr hat Sie der enge Ausgang überrascht?

Nicht wirklich. Ich habe nicht erwartet, dass alle aus staatspolitischer Verantwortung für Schoeller stimmen würden. Für Kassel ist es gut, dass diese Wahl ein Ende gefunden hat. Neuwahlen hätten eine sehr schwierige Situation hervorgebracht. Die SPD hätte sich verständigen müssen, wen sie aufstellen will. Neuwahlen hätten sicher erst in einem halben Jahr stattfinden können. So lang wäre Geselle im Amt geblieben. Trotzdem kann ich jeden verstehen, der mit „Nein“ gestimmt hat.

Man hätte gedacht, dass es schwierig wird, Wähler zu mobilisieren, nur damit Sie ein „Nein“ ankreuzen.

In der Tat. Es hätte gut sein können, dass viele, die im ersten Wahlgang für Geselle waren, bei der Stichwahl zuhause bleiben. Dem war aber nicht so. Gerade in Stadtteilen, in denen Geselle stark war, ist die Wahlbeteiligung nur unwesentlich zurückgegangen. Der Anteil der Nein-Stimmen war hier sehr hoch. Geselle-Wähler haben sich nicht entmutigen lassen und ihren Frust geäußert.

Der neue und der alte Oberbürgermeister: Nach dem ersten Wahldurchgang tauschten sich Sven Schoeller (Grüne, links) und Christian Geselle kurz aus.
Der neue und der alte Oberbürgermeister: Nach dem ersten Wahldurchgang tauschten sich Sven Schoeller (Grüne, links) und Christian Geselle kurz aus. © Andreas Fischer

Studie zur Kassler OB-Wahl: Rolle von Geselle besonders interessant

Was interessiert Sie für Ihre Studie besonders an der Kasseler Wahl?

In dieser Konstellation kann man den Amtsinhabereffekt sehr gut identifizieren. Vor sechs Jahren trat Geselle als neuer Bewerber an und für die SPD. Diesmal kandidierte er unabhängig von seiner Partei und als Amtsinhaber mit einer gewissen Reputation. Wir wollen untersuchen, welcher Teil seines Erfolgs auf seine Parteizugehörigkeit zurückzuführen ist und welcher auf den Amtsinhaberbonus. Als OB oder Bürgermeister hat man Gestaltungsmacht und eine Bühne, auf der man sichtbar ist. Auch ohne eine Partei im Hintergrund kann man so Stimmen mobilisieren. Das alles ist eine interessante Konstellation, die es in Hessen erst einmal gab. Dafür hat Geselle im ersten Durchgang ein sehr respektables Ergebnis geholt.

Er hat seinen Rückzug aber auch mit dem aus seiner Sicht enttäuschenden Ergebnis begründet.

Ich fand es angesichts der Konstellation und der Vorwürfe gegen ihn nicht schlecht, noch stärkster Kandidat zu werden. Mein Verdacht ist: Er hat geglaubt, er könne im ersten Wahlgang gewinnen. Dann hat er erkannt, dass er keine große Chance mehr hat. So hat er lieber als Erstplatzierter das Feld geräumt, statt in der Stichwahl zu verlieren. Alles andere, was als Mythos erzählt wurde, halte ich als Begründung nicht für sehr plausibel.

Wegen der geringen Wahlbeteiligung haben nur 16,57 Prozent der Wahlberechtigten für Schoeller gestimmt. Kann man mit so einem Ergebnis gestärkt sein Amt antreten?

Es ist keine einfache Situation für ihn, aber letztlich hat er keine geringere Legitimation als bei einer gewonnenen Stichwahl gegen einen Gegner. Die OB-Wahl in Frankfurt hat Mike Josef (SPD) bei einer Wahlbeteiligung von 35 Prozent mit 52 Prozent gewonnen. Rechnerisch haben also auch nur 18 Prozent aller Wahlberechtigten für ihn gestimmt. Anders als in Kassel ist dort aber nicht von einer angeblich fehlenden Legitimation die Rede – weil er einen Gegner hatte. Ich bin übrigens kein glühender Verfechter von Direktwahlen.

Nach OB-Wahl: Kasseler SPD immer noch gespalten

Wieso? Ist direkte Demokratie nicht gut?

Doch, grundsätzlich ist mehr Beteiligung besser als weniger, aber es gibt auch Nachteile. Hier führt das System dazu, dass man einen kleineren Teil der Wähler als Legitimationsbasis hat, da die Wahlbeteiligung bei OB-Wahlen in der Regel geringer ist als bei anderen Kommunalwahlen. Nach der hessischen Magistratsverfassung hat der Bürgermeister gar keine so starke Stellung. Er ist nur einer von mehreren im Magistrat. Zwar repräsentiert er die Stadt und ist Identifikationsfigur, aber ich fände es angemessener, wenn er vom Stadtparlament gewählt würde. Direkt gewählte Bürgermeister entwickeln oft ein Eigenleben und werden zu ihrer eigenen Marke, weil sie nicht mehr so stark auf ihre Partei angewiesen sind. Das sieht man an Geselle. Er glaubte, von der Bevölkerung getragen zu sein und nicht mehr die Partei rückbinden zu müssen, mit deren Hilfe er ins Amt kam. Das ist eine fast populistische Vorstellungswelt.

Viele Geselle-Anhänger hätten sich Neuwahlen gewünscht, damit die Wähler wieder eine wirkliche Wahl haben. Wäre das besser gewesen?

Für die Politik ist es nicht das Schlechteste, dass sich die Aufregung legen und man zum Tagesgeschäft übergehen kann. Aus demokratietheoretischer Sicht ist es aber schwierig, dass bei einem großen Kandidatenfeld nur einer zur Stichwahl antreten kann und der auch nur der Zweitplatzierte des ersten Durchgangs ist. Dies kann man Sven Schoeller jedoch nicht zum Vorwurf machen. Er muss nun versuchen, die Bevölkerung hinter sich zu bringen. Das wird extrem schwierig. In der Fläche hat er keine breite Unterstützung. Nur in 9 von 23 Stadtteilen hat er die Mehrheit geholt.

Der neue OB sagt, er wolle die gespaltene Stadt einen. Ist die Stadt tatsächlich gespalten?

Gespalten ist in erster Linie nicht die Stadt, sondern die Kasseler SPD. Seit Monaten geht es in der Partei vor allem darum, ob man zu Geselle steht oder zur Gegenkandidatin. Dies war die Keimzelle aller Probleme, die bei dieser Wahl aufgetreten sind. Hier liefert das Wahlergebnis interessante Befunde. In den Stadtteilen, in denen die SPD bei der letzten Kommunalwahl besonders erfolgreich war, hat Geselle diesmal viele Stimmen bekommen. Die Wähler der SPD haben ihn als den eigentlichen Kandidaten der Partei gesehen. Bei Carqueville gibt es gar keinen Zusammenhang zu den SPD-Hochburgen. Insofern hat die Partei eine Kandidatin an den Bedürfnissen ihrer Wählerschaft vorbei nominiert. Ich sehe auch nicht, wie die SPD ihren Konflikt in absehbarer Zeit glaubhaft bewältigen will. Die Kasseler Sozialdemokratie steckt in einer ganz massiven Krise.

Unabhängige Kandidaten wie Geselle haben es bei OB-Wahlen einfacher

Auch in Wolfhagen und Fuldabrück musste die SPD Niederlagen bei Bürgermeisterwahlen einstecken.

Dies liegt auch an einem Trend, den wir schon länger beobachten. Immer öfter gewinnen Kandidaten, die als unabhängige Bewerber antreten. Sie haben den Vorteil, dass sie Anhänger anderer Parteien nicht abschrecken. Sie gelten nicht als ideologisch und dafür als an der Sache orientiert. Als SPD-Kandidat begrenzt man dagegen unnötig seine Wählerschaft. Grundsätzlich betrifft dieses Problem alle Parteien, aber da die SPD in Nordhessen traditionell stark ist, macht sich das bei ihr besonders bemerkbar.

Wie besorgt sind Sie, dass die Wahlbeteiligung selbst bei spannenden OB-Wahlen wie in Kassel oder Frankfurt so niedrig ist?

Das ist leider schon Normalzustand, trotzdem bin ich sehr besorgt. Weltweit sehen wir, dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Dennoch machen bisweilen 60 Prozent der Wähler nicht mehr von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Das ist an sich schon problematisch. Das zweite Problem ist die zunehmende soziale Schieflage. In Stadtteilen mit einkommensstarken Einwohnern wie Brasselsberg lag die Wahlbeteiligung bei 45 Prozent. In sozial schwachen Stadtteilen gingen dagegen nur 15 bis 20 Prozent zur Wahl. Menschen am Rande der Gesellschaft beteiligen sich nicht mehr und bringen damit auch ihre Interessen und Bedürfnisse nicht mehr ein.

Wie kann man das ändern?

Irgendwann wird man nicht darum herumkommen, über eine gesetzliche Wahlpflicht zu reden. In einer Demokratie hat man nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Das klingt restriktiv – vor allem, weil man Sanktionen wie kleinere Geldbußen verhängen müsste, aber es ist nicht zu viel verlangt, wählen zu gehen. (Matthias Lohr)

Jetzt ist es amtlich: Sven Schoeller ist offiziell der neue Bürgermeister von Kassel.

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