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Experte über Geselle-Rückzug: „Ankündigung für Wähler problematisch“

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Von: Andreas Hermann

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Die Oberbürgermeisterwahl in Kassel endete mit einer Riesenüberraschung. Der Kommunalrechtsexperte Jan Seybold gibt eine Einschätzung.

Kassel – Das Außergewöhnliche an der Oberbürgermeisterwahl am Sonntagabend: Der als unabhängige Bewerber antretende Amtsinhaber Christian Geselle holte die meisten Stimmen, kündigte aber an, an der Stichwahl mit Grünen-Kandidat Sven Schoeller nicht teilnehmen zu wollen. Darüber sprachen wir mit dem aus Kassel stammenden Kommunalrechtsexperten Professor Jan Seybold.

Die Oberbürgermeisterkandidaten Sven Schoeller und Christian Geselle klopfen sich im Kasseler Rathaus auf den Rücken.
Zeigte Verständnis: Grünen-Kandidat Sven Schoeller mit Christian Geselle, nachdem dieser seinen Verzicht auf die Stichwahl erklärt hatte. © Andreas Fischer

OB-Wahl in Kassel: „Das Ergebnis ist nicht besonders ungewöhnlich“

War mit einem solchen Wahlergebnis zu rechnen?

Nach meiner bereits vorherigen Einschätzung ist das Ergebnis hinsichtlich der Notwendigkeit einer Stichwahl nicht überraschend. Bei einer solchen Anzahl an Kandidaten, darunter starke Grüne, ein Amtsinhaber und dazu noch jeweils eine Kandidatin der beiden klassisch als Volksparteien angesehenen SPD und CDU, sehe ich das Ergebnis geradezu als erwartbar an. Aus diesem Grund halte ich auch die Stichwahl generell für ein sehr sinnvolles Verfahren, hier in Kassel zeigt sich dies erneut.

Das Abschneiden welches Kandidaten ist für Sie die Überraschung dieses Wahlabends in Kassel?

Als sicherlich überraschend könnte das jeweils sehr schwache Abschneiden der beiden von SPD und CDU aufgestellten Kandidatinnen angesehen werden. Die Summe der für beide abgegebenen Stimmen reicht nicht einmal an das Ergebnis des Erstplatzierten, Christian Geselle, heran, sie liegt nur knapp über dem Ergebnis des Zweitplatzierten, Sven Schoeller. Allerdings handelt es sich um Kommunalwahlen. Bei solchen gibt es immer wieder lokale Besonderheiten in Einzelfällen und ganz generell gute Ergebnisse für unabhängige Kandidaten. So gesehen ist das Ergebnis nicht besonders ungewöhnlich. In Niedersachsen gab es einen ähnlichen Fall, in dem ein nicht mehr von der CDU aufgestellter OB-Amtsinhaber gegen einen neuen Kandidaten seiner Partei antrat und gewann.

Welche Folgen hatte die Kandidatur zweier Sozialdemokraten bei der Wahl?

Sicherlich hat die Kandidatur zweier Kandidaten mit einem SPD-Parteibuch die Wählerschaft gespalten. Solche Situationen erschweren es noch mehr als zumeist ohnehin, eine stabile Mehrheit in nur einem einzigen Wahlgang zu erreichen. Ein zweiter Wahlgang weist also eine gewisse Filterfunktion auf. Dies gilt umso mehr im vorliegenden Fall. Schließlich haben die beiden bestplatzierten Kandidaten jeweils nicht einmal ein Drittel der gültigen Stimmen erhalten.

40,9 Prozent Wahlbeteiligung ist wenig mehr als bei der OB-Wahl 2017 (36,5). Warum verzichteten so viele Kasseler bei dieser spannenden Wahl auf die Stimmabgabe?

Die Wahlbeteiligung ist nach wie vor sehr gering. Generell ist sie bei Kommunalwahlen nicht selten recht niedrig. Dies liegt häufig auch daran, dass viele überregionale Themen die politische Landschaft dominieren und viele Aufgaben auf höherer als auf kommunaler Ebene entschieden werden. Hinzu kommt, dass die lokalen Themen wegen der großen Nähe der Gewählten und der Wähler häufig besser berücksichtigt werden können. Dies ist durch häufige Gespräche mit der Bevölkerung, einer größeren Einbeziehung der Bürger und durch die im Kommunalrecht vorgesehenen direktdemokratischen Elemente, zum Beispiel Bürgerbegehren und Bürgerentscheide und Bürgerversammlungen, möglich.

In der Stichwahl wären Christian Geselle und Sven Schoeller gegeneinander angetreten. Wäre es zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen gekommen?

In der Tat hätte ein Kopf-an-Kopf-Rennen nahegelegen; es wäre alles offen gewesen. Dafür sprechen auch der knappe Unterschied im ersten Wahlgang und die geringe Wahlbeteiligung. Dieses Phänomen ist bei Stichwahlen auch deshalb nicht selten, weil in einem ersten Wahlgang mit mehreren Kandidaten viele Stimmen gebündelt werden, die in einem zweiten Wahlgang anderweitig vergeben werden können. Hier zeigt sich die Filterfunktion der Stichwahl, die zu einem Mehr an Demokratie führt.

Die Ankündigung Geselles, bei der Stichwahl nicht anzutreten, erscheint sehr ungewöhnlich. Ist Ihnen ein solcher Fall bekannt?

Diese Ankündigung des Noch-Amtsinhabers ist in der Tat etwas Besonderes. Ähnliche Fälle kenne ich aus 2022 im niedersächsischen Bodenfelde und aus Visselhövede. Es ist nachvollziehbar und zu respektieren, solche Entscheidungen aus persönlichen Gründen zu treffen. Dennoch sind sie mit Blick auf die Demokratie allgemein und die Wähler problematisch. Durch eine solche Aussage erst nach dem ersten Wahlgang werden die Wähler um ihre Chance gebracht, für einen anderen Kandidaten zu stimmen. Zudem wird die drittplatzierte Person um ihre Chance gebracht, in die Stichwahl zu gelangen.

OB-Wahl in Kassel: „Ankündigung für Wähler problematisch“

Jan Seybold, Kommunalrechtsexperte
Jan Seybold, Kommunalrechtsexperte © Hochschule für Verwaltung Niesa

Zur Person Jan Seybold

Prof. Dr. Jan Seybold (51) studierte nach dem Abitur an der Albert-Schweitzer-Schule (1991) in Kassel Rechtswissenschaften in Hannover und Europäische Rechtspraxis in Durham, Athen und Thessaloniki. Seybold ist Professor für Kommunalrecht an der Kommunalen Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen und am Niedersächsischen Studieninstitut für kommunale Verwaltung. Er ist als Gutachter/Berater für Kommunen tätig. Aufmerksam verfolgt der Fachkoordinator für Kommunalrecht vom Arbeitsplatz Hannover und vom Wohnort Celle aus die Politik in seiner Geburtsstadt Kassel.

Das Interview führte Andreas Hermann.

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