Geselle und die SPD: Streit begann mit Aus der Koalition

Christian Geselle und die SPD - das war lange Zeit eine Erfolgsgeschichte. Je mächtiger Geselle aber wurde, desto brüchiger wurde das Verhältnis. Nun verlässt Geselle nach Informationen unserer Zeitung die SPD.
Kassel – Christian Geselle wird die SPD nach Informationen unserer Zeitung verlassen – und zwar am Ende des Monats. Damit endet eine lange Beziehung. Geselles Aufstieg hin zum kommunalpolitischen Schwergewicht wäre ohne die Partei undenkbar gewesen. Doch nach und nach gab es Risse. Eine Chronologie.
Der Aufstieg
Geselle wird mit 30 Jahren Mitglied der Kasseler Stadtverordnetenversammlung, er gilt als politisches Talent und macht schnell auf sich aufmerksam. Dass er etwas werden will, wird rasch deutlich: 2007 – Geselle ist da gerade mal 31 Jahre alt – tritt er gegen den bisherigen Amtsinhaber Bernd Hoppe an, es geht um den Parteivorsitz.
Geselle unterliegt knapp. Karriere macht er trotzdem. 2013 wird er Vorsitzender der SPD-Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung, zwei Jahre später zieht er in den hauptamtlichen Magistrat ein, er ist bald auch für die Kämmerei zuständig. 2017 dann der Triumph: Geselle erzielt bei der Oberbürgermeisterwahl die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang.
Der erste Krach
Im Frühjahr 2019 sorgt Geselle zum ersten Mal „für ein Beben in der SPD“. So stand es damals in einer HNA-Analyse der politischen Lage im Rathaus. Der Oberbürgermeister brachte weite Teile seiner Partei seinerzeit mit einer Äußerung zu den Straßenausbaubeiträgen auf die Palme. Auf einer Pressekonferenz erwähnte er, dass er gegen deren Abschaffung sei – anders als seine Partei und die SPD-Fraktion.
Wochenlang diskutierten die Sozialdemokraten über das Thema – und über die Koalition mit den Grünen. Die hatten Geselle in einer Pressemitteilung zu den Straßenausbaubeiträgen kritisiert. Damit reizten sie den Oberbürgermeister so sehr, dass der quasi das Aus des Bündnisses verkündete, denn das Fass sei übergelaufen, wie er damals sagte.
Letztlich rissen sich die Streithähne noch mal zusammen. All das passierte in einer Phase, in der die SPD einen neuen Vorsitzenden suchte. Sie fand ihn in Ron-Hendrik Hechelmann. Er sollte die Partei einen. Lange gelang ihm das gut. Heute steht er jedoch vor einem Scherbenhaufen. Geselle und sein Lager machen Hechelmann für die Lage verantwortlich, in der die Sozialdemokraten jetzt stecken.
Das große Zerwürfnis
Der große Streit, der jetzt zum Parteiaustritt von Geselle führte, begann im vorigen Jahr mit einem Ende. Parteilinke aus der SPD machen den Oberbürgermeister dafür verantwortlich, dass die Koalition mit den Grünen in die Brüche ging. Intern soll er immer wieder schlecht über das Bündnis geredet haben. Im Mai kanzelte der Rathaus-Chef öffentlich seinen Verkehrsdezernenten Christof Nolda (Grüne) wegen eines 230 Meter langen Verkehrsversuchs auf dem Steinweg ab. Auch deswegen beendeten die Grünen im Juni die Koalition.
Zum offenen Streit in der SPD kam es im August wegen möglicher Koalitionsgespräche mit der CDU. Gleich dreimal stimmten die Sozialdemokraten gegen solche Verhandlungen – auf dem Parteitag, in der Fraktion und im Unterbezirksausschuss. Dagegen sprach unter anderem, dass es derzeit keine Mehrheit für ein DeutschlandBündnis aus SPD, CDU, FDP und Freien Wählern gab, da die Liberalen zunächst ausschließlich mit Grünen und CDU über eine Jamaika-Koalition verhandeln wollten.
Mitglieder des rechten Flügels wie Geselle führten dagegen an, dass man immer offen für Gespräche sein müsse. Sonst könnte die SPD auf Jahre in der Opposition verharren. Sie warnten, dass den Sozialdemokraten ihre Dezerntenposten, die bislang Ilona Friedrich und Dirk Stochla innehaben, verloren gehen. So wird es dieses Jahr wohl auch kommen.
Bereits Mitte August kritisierte Geselle darum in einem Offenen Brief Parteichef Ron-Hendrik Hechelmann und die Fraktionschefin Ramona Kopec scharf und forderte mehr oder weniger offen ihren Rücktritt. Andernfalls würde er nicht für die SPD zur OB-Wahl antreten.
Die Partei gab nicht klein bei. Auch Geselle blieb bei seiner Position und verkündete Ende September, als Unabhängiger bei der OB-Wahl anzutreten. Die SPD wiederum nominierte am 12. Oktober die bis dato unbekannte Isabel Carqueville als Kandidatin. So traten am 12. März zwei Bewerber mit SPD-Parteibuch gegeneinander an.
Das Ende
So richtig überrascht hat die Nachricht vom Parteiaustritt Geselles gestern niemanden. Für viele war es seit dem 12. März unvorstellbar, dass der Oberbürgermeister in naher Zukunft noch einmal in die SPD integriert werden könnte. Bestrebungen dazu hatte es bis dahin hinter den Kulissen für den Fall eines Wahlsiegs des abtrünnigen Genossen gegeben. Doch am Wahlsonntag, als Geselle den ersten Durchgang mit 31,5 Prozent gewann und weit vor Carqueville (12,7) lag, überraschte er selbst engste Vertraute mit seinem Schritt, nicht für die Stichwahl gegen den Grünen Sven Schoeller anzutreten.
Er begründete dies mit dem aus seiner Sicht schlechten Ergebnis, einer Diffamierungskampagne und seiner Familie, die er schützen wolle. Wenige Tage später hörte man von einer einflussreichen Person der Kasseler SPD den Satz: „Christian Geselle ist seit Sonntag Geschichte.“ Oberbürgermeister wird er noch bis zum 20. Juli bleiben. Aber in der Sozialdemokratie ist nun kein Platz mehr für ihn. Das sieht offenbar Geselle so und wohl auch die Mehrheit der Partei. (Matthias Lohr und Florian Hagemann)