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Warum Multitasking nicht funktioniert: Experte gibt Tipps gegen Alltagsstress

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Von: Matthias Lohr

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Manchmal ist das ganze Leben eine einzige Reizüberflutung: Dann muss man irgendwo locker lassen, denn Gelassenheit beinhaltet immer das "lassen", sagt unser Autor. © Pixabay

Jeden Tag versuchen wir, mehrere Dinge gleichzeitig zu machen. Dabei funktioniert Multitasking gar nicht, sagt der Neurologe Volker Busch. Im Gegenteil: Sie schadet uns und der Volkswirtschaft.

Der Neurologe Volker Busch berät Menschen, denen ihr Leben weh tut, wie er sagt. Der 45-Jährige ist Oberarzt an der Uni-Klinik Regensburg, wo er dafür sorgt, dass seine Patienten unter weniger Stress und Kopfschmerzen leiden und mehr Leichtigkeit in ihr Leben bekommen. Zugleich ist er ein gefragter Referent. Am 23. November spricht er in der HNA-Reihe "Zentrum Wissen" im Kasseler EAM-Gebäude über das "Gehirn im Alltagsstress sowie den Umgang mit Reizflut und Multitasking". Wir haben mit ihm telefoniert.

Herr Busch, verschicken Sie während unseres Interviews parallel noch einige WhatsApp-Nachrichten?

Volker Busch: Nein, Sie haben meine komplette Aufmerksamkeit. Ich habe sogar die Musik ausgemacht. Klassische Musik im Hintergrund wäre nicht so schlimm. Aber Sprache im Radio, oder Musik, in der gesungen wird, ist oft kontraproduktiv, wenn man Texte schreibt, zuhört oder spricht. Das Gehirn kann sich nicht gut auf zwei ähnliche Dinge konzentrieren.

Sie behaupten, der Mensch sei zum Multitasking überhaupt nicht fähig. Frauen sind da anderer Meinung.

Busch: Das ist richtig. Eine Studie zeigt, dass Frauen mehr dazu neigen, Multitasking zu probieren. Vielleicht weil wir Männer uns oft auf eine Sache konzentrieren und links und rechts eine Schneise der Verwüstung hinter uns herziehen. Frauen hingegen müssen mehr Rollen gerecht werden und mehrere Aufgaben parallelisieren. Trotzdem gelingt ihnen Multitasking neurophysiologisch nicht besser als den Männern.

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Volker Busch

Gilt das bei allen Tätigkeiten?

Busch: Es gelingt nur dann, wenn wir zwei sehr unterschiedliche Aufgaben mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden verbinden. Zum Beispiel etwas sehr leichtes Motorisches und etwas sehr Komplexes und Intellektuelles. Sie können etwa eine Strecke in einer Stadt ablaufen, die sie kennen, und dabei mit ihrer Frau am Handy streiten. Bei zwei intellektuellen Tätigkeiten ist eine Gleichzeitigkeit allerdings kaum möglich. Laufen Sie zum Beispiel durch eine völlig unbekannte Stadt und suchen ihr Hotel, wird ihre Frau den Ehestreit am Telefon vermutlich gewinnen, weil Sie mit dem Finden des Hotels beschäftigt sind.

Schätzungen zufolge verursacht Multitasking jährliche Kosten von mehr als 500 Milliarden Dollar. Wie geht das?

Busch: Wenn Sie mehrere intellektuelle Dinge gleichzeitig erledigen wollen, muss ihr Gehirn immer hin und herschalten. Dieser Prozess ist für das Gehirn sehr anstrengend. Ständiger Aufmerksamkeitswechsel kostet viel Performance. Wir machen deutlich mehr Fehler und benötigen letztlich mehr Zeit für das Verrichten einer Aufgabe. Bei einem Acht-Stunden-Tag verliert ein durchschnittlicher Arbeitnehmer heute etwa eine Stunde Produktivität durch ständige Unterbrechungen und Ablenkungen. Das entspricht einer Arbeitsleistung von 7000 bis 9000 Euro im Jahr. Die Diskussion um die Folgen des Multitaskings ist also neben der gesundheitlichen Dimension auch volkswirtschaftlich interessant.

Werden unsere Kinder es einmal einfacher haben, weil sie durch die digitale Welt Multitasking gewohnt sind?

Busch: Das ist eine zentrale Frage. Nach allem, was wir derzeit wissen, sind Multitasking und ständiges Umschalten nur in sehr engen Grenzen trainierbar. 

Stress ist erst einmal nichts Schlechtes. Er sorgt dafür, dass wir etwa in Notsituationen leistungsfähiger sind. Wann muss ich mir Sorgen machen?

Busch: Wenn sie am Arbeitsplatz merken, dass ihre Fehlerrate steigt, oder wenn Sie sich Dinge nicht mehr so gut merken können, kann es sein, dass das Gehirn bereits in einem gewissen Überforderungsmodus ist. Das ist noch nicht besorgniserregend, und es macht sie auch nicht gleich krank. Aber es ist ein Zeichen, das man ernst nehmen sollte. Spätestens jetzt sollte man zur Ruhe kommen. Ein Offline-Modus ist dann wohltuend. Wenn man statt geistig anspruchsvoller Tätigkeiten beispielsweise in ein Hörbuch versinkt, kann man sein Gehirn effektiv beruhigen. Lockere motorische Tätigkeiten wie Wandern, Musizieren oder Handwerken können diesen Zustand sogar noch steigern. Wir geraten in einen Flow, was ebenfalls ein erholsamer Kontrapunkt zur Reizüberflutung sein kann. Gedanklich runterzukommen fördert zudem das assoziative Denken. Man hat plötzlich Ideen, die man sonst womöglich nicht hat.

Aber das schafft man nicht den ganzen Arbeitstag über.

Busch: Das stimmt. Darum empfehle ich, dass man sich zunächst erst einmal eine einzelne konzentrierte Stunde am Tag organisiert. In der ist man besonders leistungsfähig, bei vielen Menschen ist das zwischen zehn und zwölf Uhr. In dieser Hochphase sollte man sich mit ganz viel Selbstdisziplin auf das Wichtigste am Tag fokussieren und sich nicht ablenken lassen. Wer dieses tiefe Arbeiten schafft, ist in dieser Stunde hocheffizient, macht weniger Fehler und erhöht sogar nachweislich seine Arbeitszufriedenheit. Eine Stunde schafft man immer. Es ist meist nur eine Frage der Selbstorganisation. Der größte Feind ist man immer selbst, nicht der Chef.

Von Albert Einstein stammt der Satz: "Der Hauptgrund für Stress ist der tägliche Kontakt mit Idioten."

Busch: Stress entsteht aus verschiedenen Quellen. Arbeitsunterbrechungen machten Einstein offensichtlich nicht so sehr zu schaffen, aber die Idioten. Er hat damit auf den emotionalen Stress hingewiesen, dem wir jeden Tag in zwischenmenschlichen Beziehungen ausgesetzt sind. Kollegen können ärgern, Führungskräfte können bedrohen, Kunden und Patienten können furchtbar nerven. Auch in digitalen Zeiten sind diese analogen Ursachen für Stress nach wie vor einer der Hauptgründe für tägliche Belastungen am Arbeitsplatz.

Inwiefern ist es ein Problem, dass selbst Freizeit heute sehr stressig sein kann? Viele stecken etwa in den Sport so viel Ehrgeiz wie in den Job.

Busch: Im optimalen Fall sollte Freizeit regenerieren. Umfragen zeigen jedoch, dass 75 Prozent der Deutschen ihre Freizeit nicht mehr als regenerierend erleben. Das liegt daran, dass wir ganz viel von unseren Leistungsansprüchen in unsere Freizeit übertragen. Wir wollen heute viel erleben, kennen und können, uns nach Möglichkeit verbessern, dabei effizient sein und möglichst gut dastehen. Denn jeder bekommt unsere freie Zeit größtenteils in sozialen Medien mit. Das ist ein enormer Druck, den wir uns selbst machen. Wenn ich an alle Bereiche meines Lebens einen Optimierungsgedanken stelle, unterscheidet sich Freizeit irgendwann kaum mehr von der Arbeit - außer dass ich kein Geld dafür bekomme.

Müssen wir die Freizeit neu erlernen?

Busch: Ich erlebe zumindest, dass viele Menschen, die sich auf die Suche nach ihr begeben, sie auch wiederentdecken. Es kann sich heute keiner mehr vorstellen, sich auf eine Wiese zu setzen, um einfach nur mit Grashalmen zu spielen. Dieser Gedanke ist unerträglich in einer nach Leistung und Erleben hungernden Gesellschaft. Es gibt eine Studie, die zeigt, dass von Menschen, die sich eine Viertelstunde in einem Raum langweilten, 64 Prozent der Männer und 28 Prozent der Frauen eher bereit waren, sich selbst Elektrostromstößen auszusetzen - nur damit sie sich nicht langweilen mussten. Langeweile klingt nach Faulheit und Laster, sie passt einfach nicht zu unserer modernen Leistungskultur.

Allerdings kann ein Marathonläufer einen zwei Stunden langen Dauerlauf trotzdem entspannend empfinden.

Busch: Natürlich. Ruhe heißt nicht, dass man nichts tun muss. Niemand braucht seine Freizeit auf einer Parkbank verbringen, wenn er sie nicht mag. Gerade Sport ist ein sehr wichtiger Aspekt einer gesunden Lebensführung. Allerdings ist es ein Unterschied, ob ich morgens locker im Wald jogge oder ob ich jedes zweite Wochenende an einem Triathlonwettkampf teilnehme. Beides mag Spaß machen und selbstbestimmt gewählt sein. Aber das ständige Bringen von Leistungen kostet Ressourcen. Auf diese Weise kann man unbemerkt die Grenze zur Überforderung überschreiten. Die Power fehlt einem dann auch bei der Arbeit.

Ein Problem ist auch die Kulturindustrie. Wenn wir gerade mal nicht arbeiten oder Zeit mit der Familie verbringen, warten ständig der dicke Roman, den wir längst gelesen haben wollten, und die neue Netflix-Serie. Wie kommen wir aus diesem Dilemma?

Busch: Wir leben in einer „Zuvielisation“, wie es ein Autor einmal nannte. Durch digitale Medien haben wir eine unvorstellbare Fülle von Informationen und Angeboten rund um die Uhr, die zahlreiche Begehrlichkeiten wecken. Das ist nichts Schlechtes, hält uns aber ständig auf Trab. Der Tag hat trotzdem nur 24 Stunden. Gestaltungsspielräume zerfasern sich dann, weil man unreflektiert jedem Ziel hinterher hetzt und nie zur Ruhe findet. Hier hilft nur kluges Selbstmanagement. Irgendwo im Leben muss man locker lassen. Denn Gelassenheit beinhaltet immer das „Lassen“.

Vortrag von Volker Busch in der Reihe "Zentrum Wissen" am Donnerstag, 23. November (19.30 Uhr), EAM Kassel, Monteverdistraße 2. Karten für 59 Euro (für HNA-Abonnenten: 49 Euro) gibt es hier.

Zur Person

Volker Busch studierte Medizin, wurde erst Facharzt für Neurologie und später für Psychiatrie und Psychotherapie. Der Neurowissenschaftler ist Oberarzt an der Uni-Klinik Regensburg und leitet die Arbeitsgemeinschaft "Psychosozialer Stress und Schmerz". Der Vater zweier Kinder lebt mit seiner Familie in Regensburg. Zur Ruhe kommt der 45-Jährige am besten beim Wandern in den Bergen.

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