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Akribische Suche nach blinden Flecken: Marc Nölke und Thomas Thurnbichler bringen polnische Springer wieder ins Fliegen

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Andere Blickwinkel wagen: Marc Nölke geht als Neuro-Athletiktrainer ungewohnte Wege, um einen Skispringer wieder gut in die Spur zu bringen.
Andere Blickwinkel wagen: Marc Nölke geht als Neuro-Athletiktrainer ungewohnte Wege, um einen Skispringer wieder gut in die Spur zu bringen. © Artur Worobiow

Jeder wünscht sich einen Marc Nölke an seiner Seite. Schließlich behauptet der gebürtige Sauerländer von sich, er mache Menschen besser.

Willingen – Bildlich gesehen schaut der 49-Jährige dabei seinem Gegenüber vor allem ins Gehirn und auf dessen Nervensystem. Dort setzt der Neuro-Athletiktrainer nach Gesprächen mit den Sportlern die Hebel für Veränderungen an, die sowohl körperlich als auch geistig sein können. Dabei betont er immer wieder, dass er weder Mediziner noch Sportpsychologe sei.

Veränderung benötigten auch die polnischen Skispringer, denn sie fielen in der vergangenen Saison in ein Leistungstief. Ist doch normal, meinten Experten, die Stochs und Kubackis sind halt in die Jahre gekommen, haben mit 35 und 32 Jahren ihren Leistungszenit überschritten. So dachten viele, Nölke nicht. Er betreut die Polen seit dieser Saison mit dem Österreicher Thomas Thurnbichler (33) als Cheftrainer.

Ein Trainer kann auch viel kaputtmachen

Wer nun hofft, er könne Nölke eine Zauberformel entlocken, wie er und der Cheftrainer es in so kurzer Zeit geschafft haben, die polnischen Springer wieder auf längere Flüge zu schicken, wird enttäuscht. „Was wir gemacht haben, ist kein Hexenwerk“, sagt Nölke und betont immer wieder, dass das körperliche Training weiter das wichtigste sei, seine Arbeit nur einen Beitrag dazu leiste. „Manchmal ist es auch wichtig, darauf zu achten, gute Leistungen möglichst wenig zu verhindern. Ein Trainer kann auch viel kaputtmachen.“

Nicht nur durch diesen Satz scheint sich der in Köln lebende Coach von anderen Trainern zu unterscheiden, vor allem legt er viel Wert auf Dinge, die seine Kollegen möglicherweise gar nicht für so wichtig halten. „Wir versuchen, breit zu denken“, sagt der 49-Jährige.

Ah, ja. Wer mehr von seiner Herangehensweise erfahren möchte, muss ihm durch hartnäckiges Fragen ab und zu auch etwas auf die Nerven gehen. Doch der Neuro-Athletiktrainer zeigt dabei viel Geduld.

Die Selbstwahrnehmung steht im Mittelpunkt

Dass dieses Trainerduo einige Wege anders geht als viele andere, belegt schon ihr Start in Polen. Sie luden erst alle Skisprungtrainer des Verbandes nach Wien ein und präsentierten ihnen dort ihr Konzept. Erst danach stellten sie sich bei den Sportlern vor und überraschten vermutlich auch sie, denn es ging anfangs nicht um Anfahrtshocke, Absprung, Flugphase oder Landung, sondern es wurde diskutiert zum Thema Selbstwahrnehmung.

Jeder wurde befragt: Was will er, was traut er sich zu, was glaubt er, wo seine Ressourcen liegen. Dann versuchten die Trainer herauszufinden, ob und wo jemand blinde Flecken hat und warum er diese verdrängt. „Wir versuchen dann, Licht darauf zu werfen und ihnen auf den Grund zu gehen“, erzählt Nölke. Ihm sind in Polen auch Besonderheiten aufgefallen, die noch aus der Zeit des Eisernen Vorhangs stammen. „In autoritären Strukturen zu arbeiten, ist in der polnischen Kultur noch stark verankert.“ Er beobachte, dass Dinge, die befohlen werden, einfach gemacht und wenig bis gar nicht hinterfragt würden.

„Das Hinterfragen wird auch nicht so gemocht“, meint Nölke. „Thomas und ich sind alles andere als autoritäre Leader und wir brauchen das Wissen und die Erfahrung von jedem Einzelnen, um das Skispringen in Polen weiterzuentwickeln. Diese Kultur gelte es zu verändern, da müssten auch Ängste von Mitarbeitern abgebaut werden.

Mit einem festen Plan auf die Polen zugegangen

Das Duo ist schon mit einem Plan auf die Polen zugegangen. Es hatte vorher viel analysiert, wo was fehlt und stellte fest, dass es im polnischen Team Beweglichkeitsdefizite gibt. „Wenn man über Jahre immer die gleichen Methoden im Training verwendet, verlieren sie an Wirkung, neue Reize setzen ist wichtig und wenn das Training über Jahre sehr spezialisiert abläuft, entstehen Mängel in der Bewegungsvariabilität.“ Jeder Mensch reagiere unterschiedlich auf Bewegung und habe ein individuelles Nervensystem. „Wenn 50 Leuten das Knie weh tut, dann ist das immer der gleiche Schmerz. Wenn man aber im Gehirn nachschaut, dann sieht man 50 verschiedene Schmerzmuster.“

Wenn die Anfahrtsgeschwindigkeit zu langsam sei oder die Technik nicht stabil reproduziert werde, dann habe das oft etwas mit der Position der Anfahrtshocke zu tun, und die werde limitiert durch die Grundbeweglichkeit und die Stabilität in der Hocke. Es gebe verschiedene Trainingsformen, um das zu verbessern. Das Ziel beim Skispringen lautet: Bestimmte Bewegungsmuster sollten ohne großen kognitiven Aufwand hohe Qualität haben.

Wie haben Olympiasieger und Weltmeister wie Stoch oder Kubacki darauf reagiert? „Sie zeigten keine Skepsis, die haben das alles mitgemacht.“ Wichtig dabei sei allerdings, dass möglichst schnell ein Erfolgserlebnis her müsse. „Das ist uns gut gelungen. Bereits nach drei Monaten haben wir die Sommer-Grand Prix dominiert.“

Formschwäche kann auch Überlastungsreaktion im Nervensystem sein

Wenn die Form mal absacke, könne das auch eine Überlastungsreaktion im Nervensystem sein, dadurch verändere sich das Empfinden und bestimmte Abläufe funktionierten nicht mehr. „Das sehen wir beim Skispringen oft und es erfordert Fingerspitzengefühl, Methoden zu finden, die das Nervensystem wieder beruhigen“, so Nölke.

Obwohl es so gut läuft bei den Polen, weiß er schon jetzt: Wir kommen gerade in eine schwierige Phase, weil jetzt dieser Methodenwechsel notwendig ist, es werden Wettkämpfe kommen, die nicht mehr so gut funktionieren.“ Nölke, übernehmen Sie. (rsm)

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